«Ich finde Kontroversen gut, auch wenn sie öffentlich sind»
Livenet: Gottfried Locher, warum ist es heute so
schwierig, Beziehungsformen und Sexualität zu thematisieren, ohne dass es gleich
zu einem öffentlichen Aufschrei kommt?
Gottfried Locher: Sexualität ist wichtig
im Leben. Es bewegt die Menschen. Dass die Leute sich mit der Frage
beschäftigen, wie die Kirche mit Lebensformen und Beziehungen zwischen den
Geschlechtern umgehen soll, finde ich eigentlich ein gutes Zeichen.
Und trotzdem stellt Sie der mediale Umgang mit
diesen Themen im Moment vor Schwierigkeiten…
Auf jeden Fall. Das Thema, wen
man segnen darf und wen nicht und wie die Homosexualität zu bewerten ist, kommt
in der Kirche seit langem immer wieder auf. Dieses Jahr ist es sehr präsent, da
man einen gesamtschweizerischen Vorschlag machen will, wie man damit umgehen könnte.
Da wir in einer Woche die Abgeordnetenversammlung haben, möchte ich inhaltlich
dazu keine Position beziehen. Das ist jetzt Sache der Abgeordneten. Ich konnte
mich bereits dazu äussern. Mir liegt viel daran, dass uns etwas glückt, bei dem
das konservative und das eher progressive Eheverständnis nebeneinander leben
dürfen. Das ist Landeskirche. Denn in der Landeskirche hat es verschiedene Frömmigkeitsstile.
Es gibt Leute, die eher pietistisch denken, andere sind eher liberaler
unterwegs. Das muss alles Platz haben.
Nach dem Interview mit dem Tages-Anzeiger im
Sommer wurde Ihnen vorgeworfen, mit dem, was Sie gesagt haben, eher provoziert
und Fronten verstärkt zu haben (Livenet berichtete).
Würden sie das Interview wieder so machen?
Es ist wichtig, dass solche
Themen an die Oberfläche kommen. Eine Aufgabe meines Amtes ist es mitzuhelfen,
dass die Diskussionen, die brodeln, geführt werden. Und deshalb finde ich es entscheidend,
dass in dieser Frage ein Interview möglich war. Vielleicht kommen als nächstes –
wer weiss – die Burkafrage oder andere Fragen, die uns beschäftigen. Das muss
zum Vorschein kommen. Deshalb ist es schon richtig, wenn solche Themen mit
gewisser Vehemenz vorwärtsgetrieben werden.
Ihr Anliegen ist es grundsätzlich, die Kirche zu
einen und auch in der Ehefrage alle mitzunehmen. Jetzt wehren sich einige aber vehement
gegen die Öffnung der Ehe. Haben Sie als SEK-Präsident Befürchtungen, dass diese
Diskussionen die Gemeinschaften mehr spalten könnten?
Ich sehe das ganz anders. Wenn irgendwo
gestritten wird, dann ist es ein Zeichen, dass es um etwas Wichtiges geht. Das scheue ich nicht. Ich finde Kontroversen gut, auch wenn sie
öffentlich sind. Wir müssen aber wieder lernen, miteinander und mit verschiedenen
Meinungen umzugehen, nach dem Motto «c'est le ton qui fait la musique». Ich
finde es wichtig, nicht auf den Mann oder die Frau zu spielen, sondern sich auf
die Sache zu konzentrieren.
Ist
es ein Zeichen unserer Zeit, dass mehr auf die Person geschossen wird?
Vielleicht ist es so, dass es ein wenig unsere Zeit
ist. Vielleicht hat das mit der Mediengesellschaft zu tun, mit der man das
leicht verstärken kann. In diesen Jahren habe ich das kennengelernt und nehme
es nicht mehr so persönlich wie auch schon. Klar, man muss die verschiedenen
Stimmen hören. Es ist auch die Aufgabe der Medien, diese gegenüberzustellen.
Wie auch immer; jetzt kommt dann die Abgeordnetenversammlung. Wir sind eine demokratisch verfasste Kirche, die dann in aller Ruhe beschliessen kann, was sie will. Die Vorschläge, die wir machen, sind eben nicht konfrontativ. Wir sagen nicht «das Eine gegen das Andere», sondern es muss beides Platz haben. Und die Versammlung soll Ja dazu sagen, dass ein moderneres, progressiveres Eheverständnis und ein konservativeres vereinbar sind.
Die Gewissensfreiheit
der Pfarrpersonen soll ja gewährleistet sein, wie der SEK mitgeteilt hat.
Bedeutet dies, dass also niemand bei einer kirchlichen Trauung gegen seine
persönliche Überzeugung handeln muss?
Das ist in unseren Empfehlungen enthalten, dass man
auf jeden Fall die Gewissensfreiheit wahren muss. Nicht Jeder und Jede in
unserer Kirche wird Ja sagen können zur grundsätzlichen Stossrichtung, die der
SEK beschliessen wird. Deshalb werden wir hier einen gewissen Spielraum offen lassen.
Dies ist bei den Landeskirchen anders als bei den Bekenntniskirchen im engeren
Sinne, die sagen, wir sind genau so und wer nicht so ist, gehört nicht dazu. Landeskirchen
ticken ein wenig anders.
Dieses Interview fand am 28. Oktober 2019 bei Livenet
statt und wurde mit Kameras aufgezeichnet. Die Fragen im Gespräch stellte
Livenet-Chefredaktor Florian Wüthrich. Weitere Themen des Gesprächs nebst «Ehe für alle» waren die Neuorganisation der reformierten Kirche, die Rolle der Kirche allgemein in der heutigen Zeit und die persönliche Nachfolge. Erfahren Sie mehr hier im Video:
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Datum: 01.11.2019
Autor: Annina Morel
Quelle: Livenet