Wann wird der Glaube manipulativ?
Hugo Stamm hat als Tages-Anzeiger-Redaktor 40 Jahre lang gegen Sekten angekämpft und oft auch Freikirchen nicht geschont. Zehn Jahre lang führte er beim «Tagi» einen Sektenblog, den er jetzt nach seiner Pensionierung bei watson.ch weiterführt. Johannes Wirth gründete als Nichttheologe die Freikirche GvC Chile Hegi und baute mit der Quellenhof-Stiftung auch ein Sozialwerk auf. Im idea Spektrum führen sie jetzt ein engagiertes Streitgespräch, das in drei Folgen abgedruckt wird.
Hugo Stamm ist bekannt als kämpferischer Agnostiker und sieht nicht nur in Sektengründern Manipulatoren der Menschheit. Er schliesst «übersinnliche Phänomene» nicht grundsätzlich aus, doch sie seien für ihn widersprüchlich und widersprächen allen Erkenntnissen. Stamm: «Mit Sehnsucht und Suggestion wird sich immer ein Gott finden.» Wenn es einen solche Gott gäbe, wäre er eine geniale Erfindung, denn man könnte bei ihm nicht nur Trost und Halt suchen, sondern ihm auch alle Verantwortung abgeben.
Gotteserfahrung statt Gottesbeweis
Johannes Wirth kontert nicht mit Gottesbeweisen, sondern damit, dass viele Menschen in seiner Umgebung Gott persönlich erfahren haben. Für ihn sei der christliche Glaube vor allem etwas Befreiendes. Er befreie aber nicht von der Verantwortung. «Ich muss viele Entscheidungen fällen. Ich kämpfe auch mit Zweifeln», so Wirth.
Hugo Stamm erkennt in Freikirchen auch viel Positives, insbesondere die gegenseitige Hilfsbereitschaft. Er betont, er habe im «Sektenblog» nie gesagt, dass eine Freikirche eine Sekte sei. «Eigentlich müsste es ‚Glaubensblog’ heissen», räumt er ein. Er wolle vor allem eine Diskussion anstossen, denn es gebe in Freikirchen durchaus «sektenhafte Aspekte». Dass seine Texte oft provokant seien, liege daran, dass sie einen Diskurs auslösen sollten.
Die Angst, das Heil zu verpassen
«Als Pastor einer Gemeinde machen Sie klare Aussagen, bis hin zu Handlungsanweisungen, die Gläubige befolgen müssen, wenn sie nicht sündig werden wollen», wirft Stamm Wirth vor. Daher sei «die Gefahr des 'Evangeliums als Drohkulisse' per se gegeben».
Wirth schliesst das nicht grundsätzlich aus, weist aber darauf hin, dass auch ein Fussballklub Regeln kennt, die von den Spielern befolgt werden müssen. Das Stamm-Argument, Gläubige lebten in Angst, das ewige Leben zu verpassen, kontert Wirth mit der Beobachtung, dass viele Menschen gerade durch den Glauben ihre Ängste verlieren und dass der Glaube «enorme Kräfte in uns freisetzt».
Glaubensvermittlung als Manipulation
Ein grosser Teil des Gesprächs dreht sich um den Vorwurf von Stamm, dass der christliche Gott unerfüllbare Anforderungen an Gläubige stellt, deren Erfüllung Stress und Angst auslöse, und dass in Gemeinden viel Beeinflussung und Suggestion stattfinde.
Wirth vermeidet es geschickt, alle Vorwürfe Stamms ins Reich der Fantasie zu schicken. zum Beispiel den Vorwurf, dass in der Kirche auch schon mit Drohkulissen gearbeitet worden ist. Er erwähnt als Beispiel den Ablasshandel, der die Reformation ausgelöst hat. «Aber für mich ist der christliche Glaube befreiend, weil ich ewiges Leben haben darf, weil ich geliebt und angenommen bin.» Er fühle kein «Big Brother ist watching you». Daher kenne er auch keine Angst vor dem Teufel.
Freikirchen haben reagiert
Problematische Entwicklungen könne es aber überall geben, wo Menschen zusammen sind, räumt Wirth ein. Auch die Freikirchen seien sich dessen bewusst und hätten aus diesem Grund ein Papier herausgegeben, das die Werte der Freikirchen definiert.
Für Stamm ist der Versuch, einen Menschen zum Glauben zu führen, klar manipulativ. Ist denn auch diakonisches Handeln schon manipulativ, weil es den Zweck haben könnte, Menschen zu bekehren? Wirth kontert dazu dezidiert: «Wir dienen den Menschen um der Menschen willen. Punkt.» Und: «Wenn wir den Menschen dienen wollen, dann machen wir das ohne versteckte Agenda.» Daher lehnt er auch Stamms Vorwurf entschieden ab, suggestive Mittel einzusetzen. Das halte seine Kirche aber nicht davon ab, zum Glauben einzuladen.
Manipulation – ja oder nein?
Darauf angesprochen, wo für ihn die Grenze zur Manipulation liegt, erklärt Stamm: «Natürlich darf man über den eigenen Glauben reden, und auch probieren, einen Freund oder einen Nachbarn zu überzeugen. Es geht um den Respekt vor dem Gegenüber. Wenn ich von ihm ein Signal bekomme, dass das nicht sein Weg ist, muss ich das ohne Wenn und Aber respektieren und akzeptieren. Dann ist es nicht manipulativ.»
Johannes Wirth sagt dazu: «Ich stelle den Menschen den Glauben vor. Ich entscheide nicht, ob das etwas für sie ist oder nicht. Wenn wir Menschen in den Alphalive-Kurs einladen, sagen wir: 'Kommen Sie doch achtmal zu dem Kurs, nachher sind Sie frei'. Manipulativ wäre, wenn ich hinterher ständig anrufen würde. Manipulativ wäre es auch, wenn eine Person, die unsere Kirche verlässt, deswegen ein Problem mit mir bekommen würde.»
Stamm betont dazu noch, er habe keine Berührungsängste mit freikirchlichen Gläubigen und lasse sich immer wieder auf Diskussionen ein. Ein freikirchlicher Christ bestreite zusammen mit ihm Wettkämpfe auf einem Tandembrett im Windsurfen.
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Datum: 14.05.2017
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet