Worseship - Erbarmen mit der Gemeinde!
«Ich habe es aufgegeben, etwas zu sagen. Es ändert nichts», sagte mir eine Frau mittleren Alters – tragendes (und zahlendes) Mitglied einer grösseren Gemeinde. Es ging um die sonntägliche Worshipzeit. Was sie mir anvertraute, deckt sich weitgehend mit meinen eigenen Beobachtungen - nicht so sehr in Jugendkirchen, sondern in den normalen Multigenerations-Freikirchen landauf landab.
Bevor jemand das Folgende in den falschen Hals kriegt, hier das Kleingedruckte: ich freue mich, dass viele junge Leute in der Gemeinde Musik machen und zunehmend junge Bands den Worship leiten. Ich rede hier nicht als älterer Mensch, dem die Worshipkultur fremd ist und der am liebsten zu Strophenliedern zurück will. Seit fast 40 Jahren leite ich selbst Worship – nach wie vor be-«geistert».
Es wäre auch ein Grund zur Freude, dass viel in Schweizerdeutsch statt, wie eine Zeitlang, nur englisch gesungen wird. Und: gute Lieder darf man auch ruhig dreimal wiederholen.
Tabu Worship?
Aber es geht um etwas Tieferes – um Tabus, die man in vielen christlichen Kreisen nicht ansprechen darf, weil sich garantiert irgendjemand verletzt fühlt und weil natürlich garantiert irgendjemand dagegenhält: «Mich hat es aber gesegnet.»
Worship ist eine Grauzone der Diskussion. Kritik wird schnell als Dämpfen des Heiligen Geistes aufgefasst; sie kommt so grad nach der Bibelkritik. Darum hier ganz klar: Es geht mir überhaupt nicht um eine Pauschal-Kritik. Aber es geht um die Gemeinde und die Qualität von Gottesdiensten, darum scheint mir eine Diskussion nötig. Und ich wünsche mir, dass der Heilige Geist mehr, nicht weniger zum Zuge kommt. Darum schreibe ich diesen Kommentar.
Ich gruppiere meine Anfragen in drei Themenbereiche und tippe nur an - Selberweiterdenken ist erlaubt:
1. Qualität der Songs - wer soll das singen?
Früher hat man singbare englische Lieder gesungen. Heute singt man häufig schweizerdeutsche Lieder, von denen viele unsingbar sind – gelinde gesagt.
Die Melodien gehen rauf und runter, scheinbar unmotiviert; waghalsige Sprünge fordern selbst musikalische Leute. Keine Ahnung von elementaren Kompositions-Regeln. Bestenfalls sind viele Songs langweilig. Man hat öfter den Eindruck, dass sich da einer eine Melodie abgezwängt hat.
Texte? Es muss ja nicht gerade Gotthelf oder Mani Matter sein, aber warum – um Gottes willen – kann man nicht Texte unter die Leute bringen, die einigermassen Qualität haben – theologisch und sprachlich? Und weiter: alle beklagen den christlichen Individualismus; könnte man nicht mal bei Liedern wieder anfangen, die oft unsägliche fromme Bauchschau und Ich-Fixierung zu durchbrechen? Worship ist doch mehr als «Ich und mein Gefühl und Jesus»!
2. Wer singt eigentlich mit?
Nochmal: Toll, dass viele junge Christen Worship machen. Aber: Wer coacht sie? Letzthin war ich in einem Riesen-Gottesdienst mit fast 1'500 Leuten. Während der Worshipzeit wagte ich, die Augen aufzumachen und um mich rumzuschauen. Meine Schätzung: ein Viertel sang – mehr oder weniger herzhaft – mit. Der Rest schwieg, bewegte irgendwie die Lippen, summte, betete – man kannte die Songs einfach nicht! Und es waren auch keine Lieder, die eingängig waren, so dass man man ab der zweiten Strophe hätte mitsingen können (wenn es eine zweite Strophe gegeben hätte). Grund: Siehe Punkt 1.
Wo sind Gemeinden, die es wagen, mitten in eine Worship-Zeit mal ein altes Evangeliums- oder sogar Kirchenlied einzuflechten, etwas mit vielleicht älterer Sprache, aber dafür tiefem Inhalt? Man kann auch «Stern, auf den ich schaue» mit der Band spielen, und wie! Von den inhaltsreichen (mittlerweile ebenfalls) Klassikern von Peter Strauch oder Manfred Siebald ganz zu schweigen ....
Ein anderer Punkt sind die Männer. Ich gehe oft in Worshipzeiten nach hinten und gucke mir die Leute von hinten oder von der Seite an. Sehr oft beobachte ich: Frauen singen mit Inbrunst, Männer kaum oder gar nicht. Männer können singen! Aber viele Worship-Texte sind – Achtung, Tabu! – sehr feminin. Sie singen von Gefühlen und Emotionen, die eher die weibliche Seite ansprechen: Geborgenheit, auf dem Schoss sitzen, Liebe in emotionalen Tönen. Das darf ja mal vorkommen, aber wenn es dominiert, werden die Männer ausgeschlossen. Man komme mir jetzt nicht mit «die Männer müssen das halt lernen». Einige der besten Worship-Zeiten, die ich erlebt habe, waren reine Männer-Treffen. Aber das waren kräftige Songs, die nicht nur Emotionen ausdrückten, sondern auch Stärke, Kraft, Hoheit Gottes, Kampf und jubelnde Freude. Wenn ein Lied singbar ist und Kraft hat, singen Männer mit. Wetten?
3. Selbstverständnis und Gemeindekultur - was ist eigentlich ein Gottesdienst?
Ich bin der Meinung, dass die Worship-Zeit nicht nur ein Selbst-Ausdruck der Worship-Gruppe und ihres Leiters ist. Es gehört zur Gottesdienstplanung und -kultur, dass sie nicht nur «eine halbe Stunde kriegen», sondern die Zeit muss irgendwie auch durchgesprochen werden. Wenn die Leiter oder Ältesten der Gemeinde merken, dass die Beteiligung beim Singen schwach ist und viel Unbekanntes oder schwer Singbares gesungen wird, dann muss darüber geredet werden. Die Worship-Band dient der Gemeinde und nicht umgekehrt. Als Faustregel müssten meiner Meinung nach mindestens zwei Drittel Lieder gesungen werden, die bekannt sind, die von der ganzen Gemeinde vertreten werden und so möglichst alle in die Anbetung Gottes führen. Im letzten Drittel kann man dann Neues lernen. Wie wäre es übrigens, mit der Gemeinde mal die neuen Lieder ein bisschen zu üben?
Natürlich, Geschmäcker sind verschieden, und keiner kann es allen recht machen, das weiss ich auch. Aber eine Zeit der Anbetung Gottes ist zu schade, um sie mit innerem Frust über sich ergehen zu lassen, nach dem Motto: «Hoffentlich kommt bald die Predigt!»
Hier ein Kompliment an die ältere Generation. Früher waren es die Jungen, die unter alten Liedern litten. Heute hält oft – nein, nicht immer, aber oft! – eine ältere Generation mit erstaunlicher Geduld evangelikalen Jugendkult aus. Redet zusammen, arbeitet daran! Worship ist keine heilige Kuh, da darf man drüber reden. Um Gottes willen! Denn es ist Seine Gemeinde. Ich bin überzeugt, dass viele Worship-Leiter hier mit sich reden lassen würden, denn auch sie haben ja kein Interesse, wenn kaum einer mitsingt, oder?
Datum: 11.02.2015
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet