Wenn Opfer und Täter sich versöhnen
Wie sind Sie auf die Versöhnungsinitiative für
Rwanda gestossen?
Leszek Ruszkowski: Ich erfuhr über einen Zeitungsartikel von der
Initiative, die in Nordrhein-Westfalen ihren Anfang nahm: Katholiken,
Reformierte und Lutheraner in der Kleinstadt Detmold, die gemeinsam eine
vorbildliche Ökumene betreiben, gründeten einen Arbeitskreis Rwanda, der sich
bereits im Land engagierte. Die Beteiligten waren somit für die Tragödie in
Ostafrika sensibilisiert. Sie wurden Gastgeber für zwei Treffen, bei denen sie sich
selbst in den Prozess einbinden liessen. Im erwähnten Zeitungsartikel über die Rolle der Kirchen im rwandischen Versöhnungsprozess wurde der Einsatz dieser Gruppe gewürdigt.
Was hat Sie dabei besonders berührt und für ein
Filmprojekt motiviert?
Filmen war immer mein
Hobby, und ich entdecke es auch als Mittel, um Fragen rund um das Evangelium
und die Kirche, auch deren Versagen, zu bearbeiten und die Gute Nachricht auch
ausserhalb der normalen kirchlichen Arbeit bewusst zu machen. Die
Ausdrucksformen der Reformierten sind ja tendenziell wortlastig. Mit der
Bildsprache und Emotionen kann man Menschen erreichen, die keine Predigt hören
wollen. Es bedeutet auch ein Hinausgehen aus der Komfortzone – aber auch ein
Aufgreifen einer alten Leidenschaft. Ich habe nämlich schon als 14-jähriger
Filme mit der 8mm-Kamera gemacht. Heute kann ich mit dem Medium Film auch eine
zentrale Botschaft der Bibel platzieren.
Was meinen Sie damit konkret?
Das Thema Versöhnung
war für mich schon länger faszinierend. Ich entdeckte spannende Bücher und
Artikel über Rwanda, die das Thema ansprachen. Ich informierte mich weiter und
stiess auf das Bekenntnis von Detmold. Also begann ich zu recherchieren und war
fasziniert. Die Tatsache, dass der Impulsgeber eine Zeit lang in der Schweiz
lebte, verlieh der Geschichte auch eine lokale Bedeutung. Ich setzte dafür
meine Weiterbildungszeit ein und organisierte auch die Reise nach Rwanda und
Detmold. Alles musste innerhalb von 14 Tagen über die Runden gehen!
Wie kam es zum ersten Treffen von Hutus und
Tutsis in Detmold?
Das erste Treffen kam
auf die Initiative des Gynäkologen Fulgence Rubayiza zustande, der entsetzt
war, dass Hutus und Tutsis, also Christen, aufeinander losgingen, weil sie dazu angestachelt wurden. Er wusste, dass Vertreter beider Volksgruppen auch in
Europa leben und sammelte Adressen, um Leute beider Volksgruppen zu erreichen.
1995 kamen sie zum ersten Mal zusammen. Sie schafften es bei diesem Treffen eine
Kultur des gegenseitigen Zuhörens zu etablieren, bei der die persönlichen
Betroffenheiten deutlich wurden. Man beschloss sodann ein zweites Treffen im
Dezember 1996. Dabei war auch Pfarrer Jörg Zimmermann, der bis kurz vor dem Genozid
für ein deutsches Missionswerk in Rwanda gearbeitet hatte. Er bat Dr. Rubayiza,
auch westliche Christen in den Prozess einzubeziehen und konnte dazu beitragen,
dass der Prozess konstruktiv verlief.
Können Sie das genauer beschreiben?
Während einer Woche
entstand eine Dynamik, die zum Bekenntnis von Detmold führte, in dem alle Beteiligten
ihre Mitschuld bekannten und die Opfer bzw. ihre Angehörigen um Vergebung
baten. Hartnäckige Feindbilder wurden abgebaut. Es zeigte sich zum Beispiel,
dass die Hutus durch die Propaganda der Regierung überzeugt waren, dass sie einem
geplanten Angriff der Tutsis, die als Kakerlaken diffamiert wurden, zuvorkommen
müssten. Als am Treffen in Detmold der erste Hutu-Vertreter die Gegenseite um
Vergebung bat, löste er eine Dynamik aus, die darin gipfelte, dass auch ein
Tutsi bekannte, seine Volksgruppe habe die Hutus in der Vergangenheit
unterdrückt. Die weissen Vertreter bekannten, dass sie einen grossen Anteil an
Schuld hätten, weil die Kolonialmächte und ihre Kirchen ethnische und
rassistische Begriffe gefestigt hatten.
Wie wurde das ausformulierte Bekenntnis in Rwanda
selbst aufgenommen?
Das Schuldbekenntnis
der Hutus und der Europäer wurde von offizieller Seite positiv aufgenommen.
Dass es auch ein Schuldbekenntnis der Tutsis enthält, stiess auf Widerspruch.
Welche konkreten Folgen hatte diese Initiative
in Rwanda?
Bei meinem Besuch in
Detmold erkannte ich, wie umstritten dieses gegenseitige Bekenntnis nur zwei
Jahre nach den Massakern war. Doch mir war auch klar, dass die guten Früchte
sichtbar sind gemäss dem Wort Jesu «An den Früchten sollt ihr sie erkennen». Ich
wollte nach den Früchten suchen. Zum Beispiel was die Leute, die das Bekenntnis
unterschrieben hatten, in Rwanda machten. Ich erlebte dabei, dass die konkreten
Ergebnisse ebenso umwerfend sind wie die Worte des Bekenntnisses. Eindrücklich
sind besonders die aufgebauten Versöhnungsdörfer, wo zum Beispiel 20 Täter nach
ihrem bis 20-jährigen Gefängnisaufenthalt mit Angehörigen von Opfern zusammen
leben und arbeiten.
Wie war das möglich?
Sie wurden
miteinander zusammengeführt und danach weiter gecoacht. Täter erfuhren
Vergebung. Die Opferangehörigen, die vergeben hatten, erlebten, dass ihnen eine
grosse Last abfiel und der selbstzerstörerische Hass wich. Es war ein
anspruchsvoller und oft ein mehrjähriger Prozess, der auch spirituell begleitet
wurde und wird.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich traf einen
Geschäftsmann, der diesen Prozess begleitet und den betroffenen Menschen
vermittelt: Ihr seid unendlich wertvoll in den Augen Gottes. Denn die
Opferangehörigen fühlten sich nach der Katastrophe oft selbst wertlos. Sie
mussten damals zusehen, wie die Leichen ihrer Liebsten auf der Strasse lagen,
zum Teil von Hunden angefallen wurden und schliesslich von Müllwagen
eingesammelt und in Massengräben verscharrt wurden. Es gibt daher kaum etwas
Grösseres als wenn man den betroffenen Menschen wieder ihre Würde als Geschöpfe
Gottes zurückgeben kann.
Wann hat diese Versöhnungsarbeit begonnen?
Um die
Jahrtausendwende. Ein Pfarrer, der auch im Film vorkommt, begann aber schon
viel früher, Witwen der Tutsis und Frauen der gefangenen Männer aufzusuchen und
sich um ihre alltägliche Not und um Versöhnung zu bemühen.
Wie waren die Reaktionen nach der Uraufführung
im Kino Monti in Frick?
Die Feedbacks zeigten
mir: Die Botschaft ist angekommen. Viele haben sich auch vorgenommen, sich über
Rwanda weiter zu informieren. Sie nahmen mit, dass die Kirchen in Rwanda
weithin versagt haben, dass es aber Menschen gab, welche glaubwürdig die Kirche
vertreten und einen Versöhnungsprozess in Gang setzten. Einige sahen darin
Parallelen zur Kirche im Dritten Reich.
Über den Film
Der von Pfarrer Leszek Ruszkowski produzierte Film zeigt, wie das Bekenntnis von Detmold, in dem sich Hutus und Tutsis gegenseitig vergeben, zustande gekommen ist. Er dokumentiert die Ereignisse vor 25 Jahren und Resultate der Friedensinitiative. Er zeigt auch Versöhnungsdörfer in Rwanda, in denen Angehörige der Opfer mit den ehemaligen Tätern zusammen leben und arbeiten. Der Film wurde im November erstmals im Kino Monti in Frick vorgeführt. Er porträtiert und befragt auch die wichtigen Akteure wie zum Beispiel Lorien Ntezimana, den Initiator der Friedensdörfer. Der Film kann auch in Gemeinden vorgeführt werden. Leszek Ruszkowski ist ebenfalls bereit, sich nach Aufführungen für Fragen und das Gespräch zur Verfügung zu stellen.
Mehr Informationen und das Bekenntnis von Detmold im Wortlaut finden Sie hier.
Zum Thema:
In Ruanda: Versöhnung durch Gottes Wort
25 Jahre nach dem Völkermord: «Die Kirchen leisten einen wichtigen Dienst»
Völkermord in Ruanda miterlebt: Marie-Christine Nibagwire widmet ihr Leben der Versöhnung
Datum: 05.12.2019
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet