«Meine hässliche Arroganz als Freikirchler»
Steiler Einstieg, bitte schnallen Sie sich an: «Wahre Christen gehen in eine Freikirche. Vielleicht gibt es auch Gläubige in Landeskirchen, die aber irgendwo falsch gewickelt sind, sonst würden sie auch eine Freikirche besuchen.»
Diese ebengetätigte Aussage kommt nicht von einem Internet-Troll in einer Kommentarspalte – es war meine eigene Aussage. Oder ist sie es noch immer? Ich bin in der Freien Missionsgemeinde (FMG) Wetzikon aufgewachsen. Mein Vater war da vollzeitlicher Pastor, wir wohnten als Familie im FMG-Gebäude und umarmten diese Gemeinde ganz innig.
Damals gab es in dieser Freikirche Antworten auf alle Fragen. Das kann praktisch sein – muss es aber nicht. Mehr möchte ich darauf nicht eingehen.
Um Himmels Willen: Er umarmt Bäume
Mir wurde zum Glück bald klar, dass ich dem Bild eines perfekten Christen nie genügen würde. Erfreulicherweise stellte ich irgendwann sogar fest, dass man auch an Jesus glauben kann, ohne dass man die FMG besucht. Und doch blieb lange etwas davon haften – von meinem Richten. Von meinen Vorstellungen, wie man als Jesus-Follower gefälligst sein sollte.
Er glaubt an Jesus und umarmt gerne Bäume? Sie ist gläubig, lässt sich aber mit Akkupunktur behandeln? Er ist Christ und wählt doch SP? Sie glaubt an Christus und will trotzdem ein Tattoo? Er ist schwul und glaubt an Jesus?
In meinen Jahren als Journalist beim «Blick» stellte ich fest, dass ich nicht der Einzige bin, der Vorstellungen hat, wie man als Christ sein sollte. «Blick und Christ? Beides zusammen geht nicht», hörte ich oft.
Der Kunde sprudelt von Jesus
Ich entfernte mich mehr und mehr von allen Vorstellungen, wie ein Christ sein muss – und fühlte mich darin so unpharisäerhaft. So demütig, so grosszügig, so liebend.
Bin ich aber nicht. Diese Woche kam ein Kunde in unser Büro. Er hat nichts mit Kirche am Hut und ich hatte nie zuvor mit ihm über Jesus gesprochen. Er wurde auf meine Halleluja-Kolumnen bei «Nau.ch» aufmerksam und wollte nun mit mir darüber reden. Ich dachte sogleich: «Ups, was kommt jetzt? Das kann heftig enden.»
Aber nein: Dieser Kunde erzählte mir von Jesus. Er hörte nicht auf zu predigen, wie Jesus sein Leben verändert. Ich musste mir Notizen machen, so tolle Sachen sprudelten aus ihm.
Meine Kirche, mein Sprungbrett
Ich staunte. Aber da meldete sich sogleich diese innere Stimme: «Wie kann das sein? Er geht ja in gar keine Kirche. Ist das nachhaltig, was er da erzählt? Stimmt das überhaupt?»
Ach, wie unreif von mir. Zu schade! Jesus braucht keine Kirche, um sich Menschen zu offenbaren. Und Menschen brauchen keine Kirche, um Christus nachzufolgen.
Und doch will ich heute so aufhören: Nein, ich besuche meine Kirche, die FEG Wetzikon, nicht weil ich müsste. Ich besuche sie, weil ich es will und dort so gerne andere Christen treffe, ermutigt und gestärkt werde, weil ich mich in meiner Gemeinde zuhause fühle. Ich wünsche jedem Christen diesen Ort, an dem er auftanken kann. Ein Ort, der zu seinem Sprungbrett wird. Für mich ist das meine Freikirche – für Sie vielleicht ein Wald mit tollen Bäumen. Halleluja!
Zum Autor:
Sam Urech ist 36-jährig, verheiratet und Vater von zwei Buben. Mit seiner Familie besucht er die Freikirche FEG Wetzikon. Sam hat viele Jahre beim Blick als Sportjournalist gearbeitet und ist heute Inhaber der Marketing Agentur «ratsam». Er schreibt jeden Freitag auf Nau.ch seine Halleluja-Kolumne.
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Datum: 28.10.2020
Autor: Sam Urech
Quelle: Livenet