Den Tod vor Augen

«Sie haben eine Raumforderung im Gehirn»

Die Rückkehr der Krebserkrankung stürzte Ralf Mühe in ein Gefühlschaos (Symbolbild)
2021 wurde bei Ralf Mühe eine Krebserkrankung erfolgreich behandelt – bis auf eine schwer zugängliche Metastase. Im vergangenen Jahr durchlebte er einen Rückfall, Gefühlschaos und neue Hoffnung.

Der Befund traf uns nicht überraschend. Unterschwellig rechneten wir stets damit, denn Reste der Metastase waren zweieinhalb Jahre zuvor nicht komplett entfernt worden. Mein Leben glich deshalb einem Vulkan, mit dessen Ausbruch ständig zu rechnen war. Dafür waren meine gelegentlichen Wortfindungsstörungen untrügliche Vorzeichen. Und sie mehrten sich. Wir ignorierten sie und suchten anderweitige Erklärungen – nach dem Motto: «Was nicht sein darf, das gibt es nicht.»

Klug war das keineswegs. Vielleicht sogar nachlässig. Die konkrete Gewissheit war bitter und – mit dem Selbstvorwurf, etwas versäumt zu haben – nur schwer zu ertragen. Es stellte sich heraus, dass der Krankheitsherd eine weitaus grössere Ausdehnung aufwies als beim ersten Mal. Die Ärztin stellte in Frage, ob es möglich sein würde, mich erneut zu operieren. Ihre Aussage raubte mir derart die Hoffnung, dass ich mich intensiv damit beschäftigte, was beim Sterben geschieht und was nach dem Tod kommen wird.

Wie beim ersten Mal, zweieinhalb Jahre zuvor, reagierten wir auf die Hiobsbotschaft unterschiedlich. Für Ulrike war das Erleben wie ein Déjà-vu. Sie brach in Tränen aus. Hatte sie doch im Jahr 2016 ihren ersten Ehemann auf diese Weise verloren. Ich versank zunächst in eine Schockstarre, in der sämtliche Empfindungen ausgelöscht waren. Danach hatte ich das Bedürfnis, mich mitzuteilen. Freunde und die Familie sollten davon wissen, denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Diese Redewendung trifft auf mein Empfinden zu. Ich kenne Personen, die sich auf schweren Wegstrecken dauerhaft zurückziehen. Meines Erachtens nehmen sie sich damit vieles. Wie gehen Sie mit Ihren Herausforderungen um?

Durchlebte Tiefen

Nach weiteren Untersuchungen stand fest, dass ich doch operiert werden kann. Für uns bedeutete das einen Lichtblick! Der vereinbarte Operationstermin wurde allerdings viermal verschoben. Mit gepackter Tasche den Wartebereich unverrichteter Dinge verlassen zu müssen, liess mich in Tränen ausbrechen. Es fühlte sich furchtbar an und in mir keimte der Verdacht auf, dass man mich womöglich abgeschrieben habe. Doch der wahre Grund war, dass im OP-Raum das Personal fehlte.

Da die Schwellung im Gehirn mit hohen Dosen Cortison eingedämmt wurde, litt ich an einer depressiven Grundstimmung. In den Nächten quälte mich die Frage, welche Folge der riskante Eingriff für das Denk- und Sprechvermögen haben würde. Angst und Zuversicht rangen miteinander um die Vorherrschaft. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dabei gelassen geblieben zu sein. Frömmigkeit bewahrt uns nicht vor den Abgründen der Seele. Doch wer ihre Tiefen nicht kennt, weiss Höhenflüge nicht zu schätzen.

Die Perspektive zählt

Ralf Mühe

Mir wurde klar, dass die Blickrichtung entscheidet, welche Kräfte die Oberhand gewinnen. Schliesslich liess ich mich ergeben in Gottes Hand fallen. Wie zeigte sich das? Ich hielt mir vor Augen, dass Jesus auch in dieser Situation bei mir ist und mich nicht im Stich lassen wird. Es war so grossartig, dass mir diese ermutigende Aussage der Bibel in einer Situation zugesagt wurde, als ich ganz unten war: «Du bist ein Gott, der mich sieht» (1. Mose Kapitel 16, Vers 13). Grübeleien und Angst wurden dadurch zwar nicht aufgehoben. Aber in den Turbulenzen der Gedanken erfüllte mich Gottes Friede in einer derartigen Intensität, wie ich sie bisher weder gekannt habe noch ausreichend beschreiben kann. Er selbst war die ruhende Mitte im tobenden Sturm meiner Seele.

Die Gebete und die liebevolle Anteilnahme von Mitchristen, aber auch Grüsse von Nachbarn taten gut. Dabei waren sie so unterschiedlich, wie wir Menschen eben sein können. Etliche Personen fanden ermutigende Worte, andere schickten Links zu geistlichen Liedern. Es gab auch solche, die schwiegen und mir lediglich mitteilten, dass sie nichts zu sagen wüssten. Mir und vermutlich auch ihnen war bewusst, dass ich als jemand, der aus dem inneren Gleichgewicht geraten war, überempfindlich reagieren könnte. Ich bemühte mich darum, auch Zusprüche, die nicht meinem Wertesystem entsprachen, als gut gemeint zu akzeptieren. Dazu gehörten «Toi, toi, toi» oder «Ich drück Ihnen die Daumen». Für theologische Richtigkeiten fehlte mir schlichtweg die Kraft. Deshalb beliess ich es dabei, auf das geäusserte Mitgefühl zu achten und nicht auf die Worte.

Wo Handlungsbedarf bestand

Machen wir uns nichts vor: Schwere Krankheiten sind Vorboten unserer Vergänglichkeit. Diesen Zusammenhang zu ignorieren heisst, Chancen zu vertun, darauf angemessen zu reagieren. Mitunter bleibt dafür nur noch ein begrenztes Zeitfenster offen. Eine Frau erzählte, dass für ihre Eltern das Reden über den Tod ein Tabu darstellte. Verstehen kann ich das. Weise ist es jedoch nicht.

Mit Ulrike erstellte ich umgehend Vollmachten. Gemeinsam überprüften wir angesichts der aktuellen Situation die Patientenverfügung. Meinen Kindern zeigte ich, wo sie Unterlagen für die Beisetzung und für die Ersparnisse finden. Wir sprachen auch darüber, wie sie meinen digitalen Nachlass handhaben können – etwa die Verwaltung von Passwörtern und Internetkonten. Welche Abbuchungen müssen gestoppt und Versicherungen gekündigt werden? Diese Überlegungen sind emotional herausfordernd, aber sie helfen denen, die wir lieben.

Vielleicht halten Sie das für übertrieben oder voreilig. Aber ich weiss, wovon ich rede! Es kam der Zeitpunkt, wo ich selbst an routinierten Abläufen scheiterte, weil die geistige Beweglichkeit des Gehirns eingeschränkt war. So brachte ich nicht mal mehr eine Banküberweisung zuwege oder ich veränderte ungewollt Einstellungen am Computer, die er mit Fehlermeldungen quittierte. Diese zunehmenden Einschränkungen deprimierten mich und kratzten an meinem Selbstwertgefühl. Was macht mich als Mensch aus, wenn die geistige Beweglichkeit schwindet? Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, dass ich wenigstens noch beten kann.

Verunsicherung und Zuversicht

Unmittelbar nachdem ich nach der Operation auf der Intensivstation erwacht war, überprüfte ich, wozu ich noch fähig war. Ich war in der Lage zu sehen, zu hören, zu riechen und die Glieder zu bewegen. Als ich heiser ein «Danke» hauchte, wusste ich, dass mir auch das Sprechen erhalten geblieben ist. Es fühlte sich so grossartig an! Beruhigt schlummerte ich wieder weg.

Für komplexe Wortzusammensetzungen benötige ich noch immer länger, bis ich ihre Bedeutung erkenne. Manche Worte sind mir völlig entfallen. Wann immer sie mir doch wieder einfallen, notiere und wiederhole ich sie in der Hoffnung, dass andere Teile des Gehirns genutzt werden, um sie abzuspeichern.

Wie werden sich die vorgesehenen Bestrahlungen auf die Fähigkeiten meines Gehirns auswirken? Werde ich auf Dauer geheilt bleiben? Das sind offene Fragen. Solche Verunsicherungen werden einigen von Ihnen sicher bekannt sein. Wie gehen Sie damit um? Wenn ich mich den Ängsten überlasse, werden sie die Zeit, die mir zum Leben noch gewährt wird, stets überschatten. Optimismus und positiv zu denken sind nur begrenzte Hilfen. Deshalb will ich bewusst auf die Ressourcen setzen, die denen, die Gott vertrauen, geschenkt werden. In der Bibel wird gesagt (2. Timotheus Kapitel 1, Vers 7; NGÜ): «Gott hat uns nicht einen Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft…» Mögen Sie wie ich diesen Weg der begründeten Zuversicht gehen?

Dieser Artikel erschien im Magazin LebensLauf 06/2023

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Datum: 27.07.2024
Autor: Ralf Mühe
Quelle: Magazin LebensLauf 06/2023, SCM Bundes-Verlag

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