Unsere Sehnsucht nach Lebendigkeit
Kleinkinder loten ihre Grenzen aus – Erwachsene manchmal auch. Was treibt uns Menschen an, Grenzerfahrungen freiwillig zu suchen?
Marcel Hager: Es ist der starke Wunsch nach einer Transzendenzerfahrung, also Erlebnissen ausserhalb der sichtbaren Erfahrungswelt. Wir sehnen uns danach, auszubrechen aus den oftmals engen Mauern, welche die Gesellschaft und wir selbst uns erschaffen haben. Unser Geist, unsere Seele und unser Körper sollten gleichermassen gefordert und gefördert werden. Doch wir kleben immer mehr hinter unseren Schreibtischen und vor den Bildschirmen.
Unser Leben ist voller Sicherheitsgurte: Alarmanlagen hier und dort, Versicherungen für dieses und jenes. Unsere Altersvorsorge ist geregelt, ja sogar unser iPhone auf Glasbruch versichert. Das ist nicht mehr natürlich und wir vermissen unsere Lebendigkeit. Je grösser die Kontrolle im Leben, desto stärker die Sehnsucht, auszubrechen. Die Balance fehlt. Insbesondere Männer kompensieren dies, indem sie überhöhtes Risiko und Gefahren bewusst suchen und in Kauf nehmen. Sie wollen das Leben nicht verlieren, sondern sich lebendig fühlen.
Kennen Sie unfreiwillige Grenzerfahrungen im Leben und wie sind Sie damit umgegangen?
Ich bin im Outback von Australien um Haaresbreite auf eine tödliche Schlange getreten, wurde in Grönland mit dem Motorboot von Eisschollen eingeklemmt, habe mich in Schottland in einem Schneesturm verirrt und kämpfte mit Angst und Einsamkeit. Die schwierigste Grenzerfahrung erlebte ich aber nicht aufgrund von Naturgewalten. Es war der scheinbar endgültige Bruch in meiner langjährigen Beziehung (heute sind wir glücklich miteinander verheiratet). Ich habe mich – nicht immer freiwillig – der Verzweiflung und meinen Ängsten gestellt und zu Gott geschrien: «Gott, wo bist du?» Und ich habe erlebt, dass Gott schon auf mich gewartet hat. Schmerzen wurden mir nicht erspart, dennoch hat Gott mich liebevoll durch diese Grenzerfahrungen hindurch begleitet. Er hat mir falsche Lebensstile und Denkmuster aufgezeigt. Mit seiner Hilfe konnte ich sie Schritt für Schritt korrigieren.
Was raten Sie im Rahmen Ihrer Coaching-Tätigkeit Menschen, die an ihre Grenzen stossen?
Nutzen Sie diese Zeit! Grenzerfahrungen sind Möglichkeiten für Veränderung. Wachstum geschieht dort, wo wir die Kontrolle verlieren. Wir können uns dem Prozess stellen oder ihn verzögern. Doch wenn wir das echte Leben suchen, gibt es keinen anderen Weg, als von Zeit zu Zeit dunkle Täler zu durchschreiten oder stürmische Seen zu überqueren – sei das physisch oder psychisch. Genau diese Zeiten offenbaren, was in uns steckt. Die Stärken werden gestärkt und die Schwächen verlieren ihr Gewicht.
Welche Personen in der Bibel haben Grenzerfahrungen erlebt? Was können wir von ihnen lernen?
Die Bibel steckt voller Grenzerfahrungen. Daniel in der Löwengrube (Daniel, Kapitel 6), seine Freunde im Feuerofen (Daniel, Kapitel 3, Verse 1-30), Mose geht durch die Wüste (ab 2. Mose, Kapitel 13, Vers 17), David wird verfolgt (1. Samuel, Kapitel 23), Jona von einem Fisch verschluckt (Jona, Kapitel 1), die Freunde von Jesus sollen auf Schlangen und Skorpione treten (Lukas-Evangelium, Kapitel 10, Verse 19-20)… Gottes Wege scheinen unmöglich und voller Herausforderungen. Doch es waren diese Erfahrungen, welche die Menschen näher zu Gott und zu sich selber brachten. Ihr Glaube und ihre Persönlichkeit wurden wiederhergestellt. Das können wir auch heute noch erleben. Wenn wir Gott in Grenzerfahrungen an unsere Seite lassen, wird er uns verändern und erneuern. Auf der anderen Seite der Schlucht wartet neues Land. Seien Sie mutig und stark und lassen Sie sich von Gott hindurchführen.
Marcel Hager ist Coach, Referent und Autor der Bücher «Mann, Unrasiert» und «Sehnsucht, Mut und Stärke». Er hat die christliche Bewegung «4M» in der Schweiz gegründet. Marcel Hager ist verheiratet, Vater von drei Kindern und wohnt in der Nähe von Zürich.
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Neuauflage. Er erschien zuerst am 19.08.2018 auf Jesus.ch.
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