Jona und der Wal
Als Jona wach wird, ist es stockdunkel. Er will seine Augen öffnen, stellt aber fest, dass die schon offen sind. Lebt er noch? Wo ist er? Und warum stinkt es um ihn herum so nach Fisch? Plötzlich fällt ihm alles wieder ein: Immer wieder hat er früher den Menschen Nachrichten von Gott weitergesagt, denn er war ein Prophet, so etwas wie ein «Botschafter» Gottes. Und dann sprach Gott einmal richtig hörbar mit ihm und meinte: «Dein nächster Auftrag ist ausserhalb.» – «Au ja, ich verreise gern.» – «Prima, es geht nämlich nach Ninive zu unseren gemeinsamen Feinden.» Da hat Jona es mit der Angst zu tun bekommen und ist weggerannt – Ninive lag rechts, also rannte er nach links.
Und weil man zu Fuss nicht so gut vorankommt, fuhr er mit einem Schiff weiter. «So weit, dass mich niemand findet», dachte Jona. «Nicht Tante Hanna, nicht Onkel Samuel, nicht Gott, nicht einmal ich selbst will mich mehr finden.» Irgendwann begann es dann zu wehen. Das ist nichts Besonderes auf dem Meer. Dann begann es zu stürmen. Das ist auch nichts Besonderes auf dem Meer. Und dann begann es so zu stürmen, wie die Seeleute an Bord es noch nie erlebt hatten. Das war kein normaler Sturm. Irgendjemand musste irgendeinen Gott geärgert haben und der war mächtig sauer.
Die Matrosen zogen Hölzchen und Jona hatte das kurze in der Hand. «Okay, okay, ich geb's zu. Es ist alles meine Schuld. Mein Gott ist nämlich der Schöpfer von diesem Meer hier – und ich laufe gerade vor ihm weg.» Die Männer können es nicht fassen. Kann einer allein wirklich so dumm sein? Sie versuchen trotzdem, Jona zu helfen, doch alles ist vergeblich. Deshalb fordert er sie auf: «Werft mich einfach ins Wasser.» Die Wellen schlagen über Jona zusammen und er weiss: «Das war's jetzt», als von unten ein riesiger Schatten auf ihn zukommt. Ein immenser Fisch reisst sein Maul auf und verschluckt ihn. Als er wieder zu sich kommt, ist er offensichtlich im Fisch und sogar noch am Leben.
Am ersten Tag betet Jona: «Warum hast du mich nicht ertrinken lassen, Gott? Ich halte es hier nicht aus. Soll ich etwa jetzt sterben – oder noch schlimmer: hier weiterleben?» Am zweiten Tag betet Jona: «Gott, es tut mir leid, dass ich vor dir weggelaufen bin. Ich hab's verdient, dass ich jetzt in diesem Fisch stecke. Mach mit mir, was du willst.» Am dritten Tag merkt Jona, dass er sein Liederbuch in der Tasche hat. Er packt es aus und singt ein Lied nach dem anderen. Gut, dass er sie auswendig kann, denn dunkel ist es immer noch. So singt und betet er: «Danke, Gott, du hast mein Leben gerettet.» Da spuckt der Fisch ihn an Land und Jona macht sich direkt auf den Weg nach Ninive.
Okay, das ist etwas übertrieben erzählt, aber so ähnlich steht die Geschichte in praktisch jeder Kinderbibel. In den Gottesdiensten für die «Grossen» kommt sie dagegen kaum vor. Da erinnert sie zu stark an Märchen oder Geschichten wie die von Pinocchio, der Gepetto in einem Wal wiederfindet – in unseren Predigten findet das keinen Platz. Dabei lohnt es sich, die Geschichte von Jona und dem Wal einmal ganz genau anzuschauen, denn sie ist es wert: Es hat gute Gründe, dass sie bis heute immer wieder erzählt wird.
Welches Tier hat Jona verschluckt?
Im Mittelmeer kommen zwei Tiere vor, denen das theoretisch möglich ist, einer davon ist tatsächlich ein Wal:
- Der Pottwal wird bis zu 24 Meter lang und kann Beutetiere allein durch den Schalldruck seiner Stimme betäuben – mit 230 dB (ein Kanonenschuss hat 150 dB).
- Der Riesenhai ernährt sich wie der Walhai von Plankton und kann 10-12 Meter lang werden.
- Ein Weisser Hai kommt weniger in Betracht, genauso wenig wie ein Blauwal – der eine hat zu viele Zähne und der andere eine zu enge Kehle.
- In der Bibel wird das Tier, das Jona verschlingt, übrigens einfach «grosser Fisch» genannt und nicht näher beschrieben.
Tatsächlich spielt es von der Geschichte her keine Rolle, welches Tier gemeint war. Wenn man ins Buch Jona hineinschaut, dann sieht man, dass Tiere, Pflanzen und Elemente darin eine besondere Rolle spielen. Sie gehorchen nämlich Gott. Er bestellt einen Sturm und der kommt. Er bestellt einen Fisch und der ist zur Stelle. Er bestellt eine Rizinuspflanze und einen Wurm und auch sie hören sofort – nur der Prophet, der berufsmässige Hörer auf Gott, hört nicht.
Wie hat Jona überlebt?
Eng damit zusammen hängt die Frage, wie Jona denn im Fischbauch überleben konnte. Nun gibt es viele Erzählungen von Matrosen, die im Magen eines Fisches oder Wals überlebt haben sollen – wie die Geschichte von James Bartley, einem Walfänger, der 1891 vor den Falklandinseln von einem Pottwal verschlungen und etwas später schwer verletzt gerettet worden sein soll. Wie die meisten ähnlichen Geschichten scheint es sich hier um Seemannsgarn zu handeln.
Verstand und Glaube scheinen sich zu widersprechen. Kann Gott ein Wunder tun und einen Menschen am Leben erhalten? Ja. Kann es sein, dass die Geschichte hier bildhaft gemeint ist? Ja. Tatsächlich geht es im Buch Jona weniger darum, dass der Prophet im Fisch überlebt hat, sondern mehr darum, dass er danach ins feindliche Gebiet gegangen ist, um dort Menschen Gottes Gericht anzukündigen. Selbst das hat er überlebt! Mehr noch: Sogar diese Menschen, die nichts mit Gott zu tun haben wollten, haben es überlebt. Das ist so wichtig, dass es als Abschluss des Buchs noch einmal herausgestellt wird. Gott betont dort: «Und ich sollte kein Mitleid haben mit der grossen Stadt Ninive, in der mehr als 120'000 Menschen sind, die ihre rechte Hand nicht von ihrer linken unterscheiden können, dazu so viel Vieh!» (Jona, Kapitel 4, Vers 11)
Was ist das Besondere im Buch Jona?
Jona wird im jüdischen Gottesdienst turnusmässig an Jom Kippur gelesen, am grossen Versöhnungstag, dem höchsten israelischen Feiertag. Alle anderen «Kleinen Propheten» enthalten Predigten, Gerichtsbotschaften und Bilder, die mehr oder weniger erklärt werden. Jona nicht. Die Predigt im Buch Jona besteht aus einem einzigen Satz: «Noch 40 Tage, und Ninive wird zerstört!» (Jona, Kapitel 3, Vers 4) Ansonsten erzählt das Buch viel von dem Menschen Jona, von seinen Ausflüchten und Ideen. Es erzählt von seinen Erwartungen an Gott, die peinlicherweise auch noch in Erfüllung gehen: «Ach, Herr, ist’s nicht das, was ich mir sagte, als ich noch in meinem Land war, dem ich auch durch die Flucht nach Tarsis zuvorkommen wollte? Denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und von großer Gnade, und das Unheil reut dich!» (Jona, Kapitel 4, Vers 2)
Das Besondere am Buch Jona ist nicht der Blick in den Bauch eines Fisches, es ist der Blick in Gottes Herz.
Was zeigt Gott Jona und uns?
In erster Linie unterstreicht Gott im Buch Jona, dass seine Gnade für jede und jeden gilt: für gehorsame wie ungehorsame Propheten, für Tiere(!) und erst recht für die vielen Menschen, die nicht wissen, «die ihre rechte Hand nicht von ihrer linken unterscheiden können». Gott könnte sie alle zur Rechenschaft ziehen, aber er tut es nicht. Er zieht sein Gericht zurück, weil er liebt. Jona ist an dieser Stelle ein «guter Christ»: Er weist Gott darauf hin, dass sein Mitleid ungerecht ist. Dabei hat er vor allem Angst um seinen Ruf, weil er ein Gericht angekündigt hat, das nicht eingetreten ist. Ein ähnliches Muster befolgen viele Christen, wenn sie hinter jeder Erwähnung von Gottes grenzenloser Liebe ein «Aber» setzen und sie einschränken. Geht es Gott um Gerechtigkeit? Natürlich! Sonst hätte er Jona doch nicht nach Ninive geschickt und die Einwohner hätten nicht Busse tun müssen. Geht es Gott um Gnade? Natürlich! Sonst wäre nach 40 Tagen ein Blitz vom Himmel gefahren und hätte Ninive ausgelöscht – und Jona selbst wäre vorher im Fischbauch gestorben.
Am Schluss bleibt es allerdings unklar, ob und was der Prophet gelernt hat. Kein Wunder: Die Geschichte muss offenbleiben, denn die grenzenlose Gnade Gottes buchstabiert jede Generation, jeder Einzelne wieder neu für sich. Und genau an diesem Punkt kommt Jesus in der Geschichte vor – und zwar deutlicher als in dem Vergleich in Matthäus, Kapitel 12, Vers 39-40. Die Autorin Rachel Held Evans beschrieb es folgendermassen: «Was das Evangelium so anstössig macht, ist nicht, wen es ausschliesst, sondern wen es alles hereinlässt.»
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