Pastoren und Alkohol

Das verheimlichte Problem

Ein Glas Wein mit der Flasche nebendran
Alkohol ist eine echte gesellschaftliche Herausforderung. Unsere Kirchen und Gemeinden realisieren dies weitgehend und wollen hier helfen – dabei bieten sie nicht nur Lösungen, sondern sind gleichzeitig Teil des Problems.

Stellen Sie sich einmal vor, dass Sie im Gottesdienst sitzen. Während der Predigt erzählt Ihr Pastor etwas von Sucht und Abhängigkeit, davon, dass in Deutschland 3 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren eine sogenannte alkoholbezogene Störung haben, also aus den verschiedensten Gründen und in sehr unterschiedlicher Weise zu viel trinken. Innerhalb dieser Altersgruppe wären das fast 6 Prozent der Bevölkerung. Unauffällig schauen Sie sich nun im Raum um. Ob es auch hier welche gibt? Von den 100 Gottesdienstbesuchern könnte es immerhin fünf betreffen … oder ist das eher ein Problem der Menschen ausserhalb von Kirche und Gemeinde? Natürlich nicht! Und es ist nicht einmal ausschliesslich ein Problem der Besucher – es betrifft auch Pastoren und Missionarinnen, Älteste und Diakoninnen. Woher ich das weiss? Ich bin einer davon.

Jeder hat seine Sollbruchstelle

Livenet-Redaktor Hauke Burgarth

Wenn ich früher eine stressige Phase hatte, dann war es schon vorprogrammiert, dass ich im Anschluss eine eitrige Mandelentzündung bekam und ein paar Tage flachlag. Das war meine «Sollbruchstelle». Wenn es mich erwischte, dann meistens dort. Nun ist falscher Umgang mit Alkohol weder angeboren noch eine bakterielle Infektion, aber es gibt einiges, was ihn begünstigt. In meinem Fall ist das meine Herkunftsfamilie, in der Alkoholprobleme stark vertreten waren, und in der wir als Kinder die Opfer von Missbrauch wurden.

Ich war schon längst zu Hause ausgezogen und lebte inzwischen als Christ, als das offenbar wurde. Damals dachte ich noch: «Zum Glück bin ich gläubig. Ich kenne Gott und bin in ihm geborgen.» Das glaube ich übrigens immer noch – trotzdem hat es mein Leben atomisiert. Und im Laufe der Jahre entwickelte ich eine neue Sollbruchstelle: den Alkohol. Ich bin niemand, der mit seinen Kumpels um die Häuser zieht, um sich gemeinsam zu betrinken. Ich suche auch keinen regelmässigen Rausch oder permanenten Alkoholpegel, aber ich kenne Alkoholmissbrauch. Wenn der Stress bei der Arbeit bzw. in der Gemeinde zu gross wird, wenn ich mich grundständig als minderwertig ansehe, wenn die Leere in mir so laut wird, dass ich nicht mehr «funktioniere», wenn ich einsam bin oder mich so fühle, dann kommt es vor, dass ich deutlich zu viel trinke. Erschreckenderweise ist mein gemeindliches Umfeld mir hierbei weniger eine Hilfe als vielmehr ein Teil des Problems – dabei rede ich in meinem Fall von fantastischen Gemeinden!

Doch ein Christ und dann noch ein Pastor, der ein Alkoholproblem hat, sprengt den frommen Rahmen. Einige können damit umgehen. Die meisten versinken in eine Starre zwischen Mitleid, Anklage, Unverständnis und der Erleichterung, nicht selbst betroffen zu sein. Ich selbst tue mich wahrscheinlich am schwersten damit, denn Gnade ist doch etwas, das ich anderen zusprechen und nicht ständig selbst in Anspruch nehmen soll, oder? Und die Gesprächskultur in der Gemeinde lässt zwar manche Probleme zu – «Bei der Arbeit ist es gerade sehr stressig und mein Ältester sucht schon länger nach einem Ausbildungsplatz» –, aber «Ich hab es gestern Abend nicht ausgehalten und zwei Flaschen Wein getrunken» ist ein Tabu, vor allem, wenn der Zusatz fehlt: «So war es früher, aber der Herr hat mich geheilt.» Ich weiss, dass jeder Mensch seine emotionalen und körperlichen Sollbruchstellen hat. Für einige – auch in der Gemeinde – ist der der Alkohol. Für mich auch.

Alkohol ist nicht zu unterschätzen

Wenn ich hier von familiären Ursachen und Gemeindekultur spreche, soll das nichts relativieren. Meine Gemeinde ist nicht schuld an meiner Situation. Viele haben eine fürchterliche Kindheit erlebt und trinken nicht. Wenn ich in meinem Leben Alkoholmissbrauch, aber (noch) keine Alkoholabhängigkeit feststelle, macht mich das nicht besser als solche Menschen. Ich habe dadurch schon einige Situationen erlebt, auf die ich nicht stolz bin. Dabei erhebe ich keinerlei Anspruch darauf, dass das, was ich erlebe und hier sage, allgemeingültig wäre, aber ich möchte mehr tun, als nur Statistiken zu bemühen. Die sprechen seit Jahren eine deutliche Sprache: Gerade im Zusammenhang mit Stress gilt der Konsum von Alkohol als legitime Bewältigungsstrategie und das Glas Wein oder den «Kurzen» zum abendlichen Runterkommen muss sich niemand in der Bahnhofsunterführung beim Dealer besorgen; sie sind einfach Teil des normalen Wocheneinkaufs.

Trotzdem können die Auswirkungen drastisch sein: 1,4 Millionen Deutsche und 250'000 Schweizer gelten als alkoholabhängig, und um die 8 Prozent aller Todesfälle insgesamt lassen sich direkt auf Alkoholeinfluss zurückführen. Das Dumme ist, dass mir Zahlen wie diese, die das Blaue Kreuz Schweiz gerade im Rahmen seines «Aktionstags Alkoholprobleme» veröffentlicht hat, nicht helfen, wenn ich im Loch sitze. Aber sie motivieren mich durchaus, in den anderen Zeiten Strategien zu entwickeln, mit denen ich umsetzen kann, was sich die Anonymen Alkoholiker als Motto auf die Fahne schreiben: «Nur du allein kannst es schaffen. Aber du schaffst es nicht allein.»

Alkoholismus ist auch nur eine Krankheit

In den meisten Kirchen und Gemeinden tut man sich schwer mit dem Thema Alkohol. Das hat die unterschiedlichsten Gründe. So wird mein zeitweiser Missbrauch von Alkohol zwar von der Weltgesundheitsbehörde als Krankheit anerkannt (F10.2), im gemeindlichen Kontext herrscht allerdings eher die Einstellung vor, dass es Sünde ist, die man «nur» lassen muss. Es geht vor allem kaum darum, dass Alkoholkrankheit die Folge anderer Störungen und Probleme ist. Natürlich wäre schon etwas gewonnen, wenn Menschen wie ich zu einem normalen Umgang mit Alkohol zurückfinden oder gar nichts mehr trinken, allerdings lebe ich damit, dass die eigentlichen Ursachen wahrscheinlich in diesem Leben nicht mehr heil werden.

Und dieses Verständnis ist in Gemeinden ein echter Störfaktor. Hier, wo sich alles um das Heil dreht, ist jemand, der nicht mehr heil wird? Das rüttelt am Selbstverständnis von Christen, die diese Tatsache gern verdrängen. Die eine Person, die Heilung erfahren hat (ob von Alkoholismus, Depression oder anderem), landet auf dem Cover christlicher Zeitschriften, berichtet in Talkshows und schreibt ein Buch über ihren Weg in die Freiheit.

Von den 999 Ungeheilten, die genauso intensiv geglaubt haben, die aber trotzdem zu Dauergästen in psychiatrischen Krankenhäusern geworden sind, redet niemand. Wie sieht unser Gemeindeverständnis aus? Sind unsere Gemeinden der starke Anlaufpunkt für all die Schwachen der Gesellschaft? Hoffentlich nicht! Tatsächlich sind wir doch weniger «Gemeinschaft der Heiligen» als vielmehr «Gemeinschaft der Mitbetroffenen» und entfalten gerade dadurch unser heilendes Potenzial. Halte ich als Betroffener meine Gemeinde aus? Hält sie mich aus?

Es wird Zeit, darüber zu reden…

Warum schreibe ich das hier? Brauche ich Aufmerksamkeit? Eher nicht. Und bei diesem Thema schon gar nicht. Ich bin mir bewusst, dass mich dieser Artikel vieles kosten und negative Folgen für mich haben kann – das reicht von beruflichen Nachteilen bis dahin, von nun an bei allem, was ich sage und tue, in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden. Gleichzeitig denke ich, dass meine Äusserungen für mich keinen Gesichtsverlust bedeuten – ich habe eher den Eindruck, mein Gesicht wiederzugewinnen, weil andere mich ein Stück weit sehen, wie ich bin. Ich schreibe diesen Artikel, weil ich an die Menschen denke, die sich als Pastor, Missionarin oder Diakon schlecht fühlen, weil sie meinen, die einzigen zu sein, die als «Berufschristen» ein Alkoholproblem haben.

Ich schreibe ihn für Gemeinden als die «Gemeinschaft der Mitbetroffenen» – wir waren noch nie besser als andere. Ich schreibe ihn nicht, um die Probleme rund um den Alkohol zu bagatellisieren, denn wenn 6 Prozent der Deutschen eine alkoholbezogene Störung haben und um die 15 Prozent Alkohol in gesundheitlich riskanten Mengen konsumieren, dann wird es höchste Zeit, dass es normal wird, darüber zu reden. Ich schreibe ihn für mich und alle, die vom Schein zum Sein finden möchten – zum Leben.

Brauchen Sie Hilfe oder einfach ein offenes Ohr? Dann melden Sie sich bei der anonymen Lebenshilfe von Livenet, per Telefon oder E-Mail. Weitere Adressen für Notsituationen finden Sie hier

Hilfreiche Webseiten:
Blaues Kreuz
Suchtschweiz
Anonyme Alkoholiker

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Datum: 07.06.2023
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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