Ist die «Stille Zeit» am Ende?
Seit zwölf Jahren unterrichtet Dru Johnson am New Yorker King’s College Altes Testament. In seinen Einführungskursen erlebt er es regelmässig, dass Studierende ihm glaubwürdig erklären, sie würden jeden Tag in ihrer Bibel lesen. Sie können Johannes, Kapitel 3, Vers 16 und andere Kernstellen auswendig aufsagen. Sie beherrschen den gängigen christlichen Wortschatz. Doch trotzdem fehlt ihnen sowohl ein gewisser Überblick als auch Detailwissen. Ihre Unkenntnis scheint also nicht daher zu kommen, dass sie zu wenig in der Bibel lesen.
Unkenntnis trotz Bibellese
Johnson spricht in seinem Artikel nicht von Menschen, die die Bibel nie in die Hand nehmen, sondern von Studierenden, die sich für ein christliches College entschieden haben und mehrheitlich in der Bibel lesen. Ihr fehlendes Verständnis scheint also an der Art und Weise zu liegen, wie sie darin lesen. Für die meisten ist es die klassische «Stille Zeit» eine Andacht, bei der sie ein paar Verse lesen, darüber nachdenken und anschliessend beten. Um eine gesamtbiblische Perspektive zu gewinnen, reicht das jedoch nicht aus.
Johnson betont: «Nur wenn die Andachtszeit in eine Matrix von Gewohnheiten des Bibelstudiums eingebettet ist, kann sie ihre Kraft zurückgewinnen, unser Denken und unsere Gemeinschaften zu verändern.» Wer jetzt meint, dass dieses Studium sich nur für «professionelle» Christen eignet, irrt sich, denn die Folge sind tragische Fehleinschätzungen. Ed Stetzer meinte bereits 2017: «Im Grossen und Ganzen haben die Amerikaner, inklusive vieler Christen, unbiblische Ansichten über Hölle, Sünde, Erlösung, Jesus, die Menschheit und die Bibel selbst.» Und in diesem Punkt sind die Westeuropäer nicht weit von den US-Amerikanern entfernt!
Tiefere Einsichten gewinnen
Wer die Bibel nur in kleinen Abschnitten liest, um daraus Gottes direkte Ansprache und Hilfe für den Tag zu erwarten, wird dies manches Mal erfahren – aber genauso oft Abschnitte völlig missverstehen. Wie zum Beispiel ist dieser Vers ohne Hintergrundwissen zu verstehen? «Was wollen wir nun hierzu sagen? Ist Gott für uns, wer kann gegen uns sein?» (Römer, Kapitel 8, Vers 31) Dabei gibt es einfache Möglichkeiten, die für ein breiteres Verständnis sorgen können:
- Ein fortlaufender Bibelleseplan,
- induktives Bibelstudium (eine Erklärung ist hier)
- die Verwendung eines Lektionars
- das Anwenden der «Lectio Divina»
- oder schlicht und einfach das Lesen der Tagesverse in ihrem Zusammenhang.
Auf diese und viele weitere Arten kann man sich mit den Zusammenhängen in der Bibel vertraut machen, ohne dabei die Anwendung aufs eigene Leben aus den Augen zu verlieren.
Das Ziel ist Weisheit
Der Gedanke an eine persönliche Stille Zeit entstand irgendwann im 19. Jahrhundert, als viele Christen durch Sonntagsschule und Lehre der Gemeinde ein breites Bibelwissen hatten. Auf dieser Basis war sie sinnvoll. Wo die Basis jedoch fehlt, erreicht die Stille Zeit ihren Zweck nicht. Sie mutiert zu einer Pflichtübung oder zu einem täglichen Fragen: «Gott, was hast du mir heute zu sagen?» Diese Frage ist natürlich legitim, wenn sie aber einziger Inhalt der Stillen Zeit ist, wird diese dadurch zu einem Tagesorakel.
Bibelstudium als Alternative hört sich dagegen mühsam an, doch damit ist kein Anhäufen von (theoretischem) Wissen gemeint. Dem widerspricht Jesus selbst eindeutig: «Ein jeder nun, der diese meine Worte hört und sie tut, den will ich mit einem klugen Mann vergleichen…» (Matthäus, Kapitel 7, Vers 24). Allerdings bedeutet es tatsächlich Arbeit und kostet Zeit, die Bibel auf eine lebendige Art zu studieren, doch das Ergebnis entschädigt für alles. Schon im Alten Testament wird dieser Zusammenhang hergestellt, als Mose den Israeliten zeigt, dass es sich lohnt, auf Gottes Wort zu hören und sich danach zu richten, denn als Folge sollen sogar andere erkennen: «Wie ist doch dieses grosse Volk ein so weises und verständiges Volk!» (5. Mose, Kapitel 6, Vers 4) Für Dru Johnson ist es klar, dass Bibelstudium kein Hobby für Theologen ist, sondern absolut notwendig für alle, die Jesus nachfolgen und reif im Glauben und weise werden möchten.
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Datum: 03.04.2023
Autor:
Hauke Burgarth
Quelle:
Livenet / Christianity Today