«Wir empfehlen zum Singen eine Maske»
idea: Peter Schneeberger, pardon, aber wir
müssen nochmals über Corona reden …,
wie geht es den Schweizer Freikirchen im
Korsett der Corona-Massnahmen?
Peter Schneeberger: Die Anwendung des Corona-Schutzkonzeptes für Freikirchen fordert unsere Kirchen und Gemeinden sehr
heraus. Es ist ein schmaler Grat, den Gemeindemitgliedern eine grösstmögliche
Sicherheit zu geben und gleichzeitig ein
begeistertes und fröhliches Gemeindeleben zu pflegen.
Das Organisieren von Gottesdiensten und
anderen Anlässen unter strengen Auflagen
fordert Pastoren und Leitende über das Gewohnte hinaus. Wie lange kann das noch
gut gehen? Die anhaltenden Einschränkungen ermüden …
Nach gegenwärtigem Stand möchte der
Bundesrat das Covid-19-Gesetz bis Ende
2021 in Kraft lassen. Im Parlament laufen
die Verhandlungen dazu. Andreas M. Walker hat eine wichtige Frage dazu gestellt,
ich zitiere: «Wir leben in einer '0-ProzentRisiko-Gesellschaft', niemand will schuld
sein. Müssen wir eine neue Kultur entwickeln, um mit den Folge- und Kollateralschäden aufgrund dieser Haltung bezüglich unserer Zukunftsfähigkeit umgehen
zu können?»
Auf welche Zukunft gehen wir zu?
Tatsächlich treibt mich die Frage nach
unserer Zukunftsfähigkeit als Land und
als Kirchen um. Was ist, wenn wir gerade
unsere Zukunft aufs Spiel setzen? Und
mich bewegt der Energiehaushalt unserer
Angestellten. Sie haben es mit Herausforderungen zu tun, die viel Kraft kosten –
denken Sie an die Digitalisierung, die fehlenden Mitarbeitenden usw. Wir stehen in
einer grossen Herausforderung. Umso
mehr wünsche ich mir, dass wir weiterhin
einen wertschätzenden Umgang miteinander pflegen.
In einigen Kantonen herrscht die Maskenpflicht in Läden. Dass man dies tut, aber im
Gottesdienst ungeschützt singt, ist doch ein
Widerspruch …, was raten Sie als Verbandspräsident?
Singen ist für das psychische Wohlbefinden und das Gemeindeleben enorm
wichtig. Lüften, hohe Räume und auch das
Tragen von Masken beim Singen sind ein
guter Schutz. Wir empfehlen darum das
Tragen von Masken beim Gemeindegesang.
«Grosser Gott, wir loben dich!» mit Maske,
geht das?
Das geht sehr gut. Da rede ich aus Erfahrung.
Die Kontroversen über den Sinn der Schutzmassnahmen werden zunehmend auch in
den Reihen der Gemeinden und in ihren
Leitungsgremien geführt. Es geht um Abstände, Teilnehmerlisten und Maskentragen. Während die einen sich genau an die
Regeln halten wollen, plädieren andere für
mehr Freiheit. Wird Corona zur Zerreissprobe?
Wir haben eine zweifache Krise: eine Gesundheits- und eine Vertrauenskrise. Für
mich muss eine Strategie nachvollziehbar
sein. Beim Bundesrat kann ich nicht immer
eine nachvollziehbare Strategie erkennen.
Deshalb bin ich für den offenen Meinungsaustausch. Diesen pflege ich auch als Freikirchenpräsident. Nur durchs Gespräch
finden wir die besten Wege, um unser
Leben gut zu gestalten. Wir brauchen eine
gute Diskussionskultur. Hingegen bin ich
nicht bereit, mich auf unnütze Diskussionen einzulassen, deren Informationsquellen trübe sind. Meinungen und Theorien
zur Corona-Krise, die es nicht schaffen, in
der NZZ abgebildet zu werden, diskutiere
ich nicht!
Besteht ein Risiko, dass sich Gemeinden in
der kommenden Zeit auflösen – wird das Virus zum Spaltpilz?
Die Corona-Krise hat in den Gemeinden – wie in allen anderen Lebensfeldern
auch – zu einem Ressourcenproblem geführt. Freikirchen, die vor der Krise gut
unterwegs waren, sind es auch heute. Bei
Gemeinden mit schwierigen Umständen
haben sich die Probleme aber vervielfacht.
Ich leide mit den Gemeinden in Schwierigkeiten. Gleichzeitig versuche ich, Leitern
von Freikirchen Sicherheit und Zuversicht
zu vermitteln, indem ich nachvollziehbare
Hilfestellungen gebe.
Wir haben in der FEG Schweiz vor Jahren
schon Unterlagen für Gemeinden erarbeitet als Hilfe gegen Spaltungen.
Was unternimmt der Freikirchenverband,
um seine Mitglieder zu unterstützen?
Wir haben ein sehr gutes Schutzkonzept
verfasst. Auf den 1. Oktober wird eine
überarbeitete Version erscheinen. Unter
den Leiterinnen und Leitern der Freikirchenverbände herrscht ein sehr reger Meinungs- und Erfahrungsaustausch. Ich habe
regelmässig Mails an alle Freikirchenleitenden mit den wichtigsten Informationen
verschickt. Unsere Kommunikationsabteilung kümmert sich um die Kommunikation gegen aussen. Am 27. Oktober plant
die Schweizerische Evangelische Allianz
zusammen mit dem Freikirchenverband
einen Thinktank zu Kirche und Corona.
Wichtige Zukunftsdenker wie Andreas M.
Walker werden dabei sein.
Wer kontrolliert, ob das Schutzkonzept in
den Kirchen umgesetzt wird?
Es gilt eigenverantwortliches Handeln. Das
kennen wir in der Schweiz. Bei kirchlichen
Veranstaltungen sind die zuständigen
Kirchenleitungen für die Umsetzung des
Schutzkonzeptes vor Ort zuständig. Sie
müssen zum Beispiel im Kanton Waadt seit
dem 17. September die Maskenpflicht für
den gesamten Gottesdienst durchsetzen.
Die Pandemieanordnungen greifen tief hinein in die Versammlungsfreiheit. Die Kirchen
scheinen sich den staatlichen Weisungen
von Bundesrat und BAG diskussionslos unterzuordnen. Stimmt diese Beobachtung
oder gibt es auf Verbandsebene auch kritische Diskussionen und mit den Behörden
eine bewusste Suche nach individuellen Lösungen für Kirchen?
Wir haben die Verhältnismässigkeit der
Massnahmen häufig mit einer zuständigen Person aus der Direktion des BAG
diskutiert. Immer wieder habe ich mich
gefragt: Diskutieren wir die richtigen Fragen? Was ist, wenn die Gesellschaft der
individuellen Gesundheit einen zu hohen
Wert beimisst im Gegensatz zu einem guten Zukunftsleben für alle? Ich habe stets
auch den Kontakt und den Austausch mit
Ethikern, Zukunftsforschern und theologischen Wissenschaftlern gesucht. Es gibt
wichtige Grundlagenarbeiten, zum Beispiel «Entgrenzende Gottesdienste» von
Professor Stefan Schweyer.
Früher regelmässige Gottesdienstbesucher
gewöhnen sich langsam ans Ausschlafen
am Sonntag und schauen sich – wenn überhaupt – die Liveübertragungen an. Beunruhigt Sie das?
Wir haben es heute bezüglich Verbindlichkeit mit vielen unterschiedlichen Gruppen
in Kirchen und Gemeinden zu tun. Dabei
fallen vor allem zwei Generationen auf, die
es an Verbindlichkeit missen lassen: die Jugendlichen und die Boomers …
Wie bitte – die Boomers?
Entschuldigen Sie diesen Ausdruck für
meine Generation! Ja, ich gehöre zu den
Boomers; so nennen mich spasshalber
meine Kinder. Das nimmt Bezug auf die
Generation der Babyboomer.
Was die Jugendlichen anbelangt: Ich
möchte die Kirchen zum Gebet für sie aufrufen! Bitte betet für ein neues Erwachen
unter den Jugendlichen. Und die Boomers
möchte ich aufrufen, sich in der Gemeinde als Väter und Mütter im Dienst für die
nachkommenden Generation zu sehen.
Man lese dazu 1. Thessalonicher Kapitel 2, Verse 7 bis 8
und Verse 11 bis 12. Sie sollen sich nicht als
eine Generation betrachten, die schon alles gesehen und gehört hat und deshalb
meint, den Gemeindebesuch nicht mehr
zu benötigen.
Bereitet Ihnen die Zukunft Sorgen?
Nein. Ich habe einen starken Heiland, darum bin ich um die Zukunft nicht besorgt.
Was raten Sie den Gemeindeleitungen für
die kommenden Wochen?
Gott hat uns einen grossen Auftrag anvertraut. Den sollen wir betonen und leben!
Ich war in den vergangenen Wochen viel
im Austausch mit Leitern aus dem globalen Süden. Bitte holt diese Stimmen in
eure Gemeinden. Wir haben vergessen,
dass wir in der Schweiz wie auf einer Insel
leben. So wie ich es einschätze, haben wir
im weltweiten Vergleich sehr lockere Corona-Regeln. Es ist uns nicht bewusst, dass
die christliche Welt ausserhalb Europas
hungert! Und sie wird in eine Zukunft geführt, die ich mir gar nicht ausmalen will.
Ich habe gestandene Leiter aus Indien die
Tränen verdrücken sehen, weil sie für ihre
Jugendlichen keine Perspektive mehr sehen. Ich rufe die christliche Gemeinschaft
hierzulande auf: Betet und spendet grosszügig für die Arbeit der Werke im globalen
Süden!
Was ist der Auftrag der christlichen Gemeinde in unsicheren Zeiten und sozialer Distanz?
Einer meiner Vorbilder hat es einmal so
gesagt: Dient in Freiheit und erzählt eurer
Umgebung von der guten und hoffnungsvollen Botschaft: Jesus lebt!
Hier kommen Sie zum aktualisierten Schutzkonzept für Frei- und Landeskirchen.
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Datum: 26.09.2020
Autor: Rolf Höneisen
Quelle: ideaSpektrum Schweiz