Hybels und wir Frauen
Um es offen zu sagen: Die ganzen Enthüllungen und die Reaktionen darauf habe ich äusserst zwiespältig zur Kenntnis genommen. Eins ist klar: Bill Hybels scheint ein Stück weit ein Macho zu sein. Ich lebe seit einigen Jahren in Bolivien, und hier ist die Macho-Kultur noch viel stärker als in den USA, wo ich auch gelebt habe. Ein Macho nimmt sich von Frauen, was er will; ein Macho gibt nicht zu, dass er wirklich gefehlt hat; ein Macho entschuldigt sich nie. Diese testosteron-gesteuerte Haltung ist für einen Nachfolger von Jesus inakzeptabel und wird besonders gefährlich, wenn sie mit christlicher Idol-Kultur verbunden wird.
Gericht über kirchlicher Kultur
Die Vorgänge um Hybels sind nur auf dem Hintergrund einer Kirchenkultur zu verstehen, die alles andere als biblische Linien verkörpert. Nicht umsonst kommt im Neuen Testament der «Pastor» als DER Leiter, Chef und Superstar nie vor. Von daher ist die Hybels-Story auch Gericht über eine Gemeindekultur und -struktur, die Jesus wohl so nicht gewollt hat.
Diese Kultur fördert nicht Transparenz und Wahrheit. Vergebung für Verfehlungen findet nur dort statt, wo diese ehrlich eingestanden und bereut werden. Ich bin enttäuscht über die Leugnungen und das beredte Schweigen von Bill Hybels. Wenn eine Kultur das Bekennen und «zu seinen Fehlern-Stehen» unmöglich macht, dann wird's gefährlich. Wie befreiend wäre es für viele Tausende normaler Christen, wenn Bill zugeben würde: «Ich hatte/habe hier Schwierigkeiten und habe Grenzen überschritten. Tut mir echt leid.» Das ganze Christentum baut ja auf Schuldanerkennung, Vergebung und Gnade auf!
Verkrampfter Umgang mit Sex
Als Europäerin habe ich vielleicht ein etwas entspannteres Verhältnis zu Eros und Sexualität als Amerikaner. Gerade beim Umgang von Männern und Frauen miteinander gibt's ja nicht nur «richtig und falsch», sondern sehr viele Grauzonen. Wo ist die Grenze zwischen Kompliment und Flirt? Noch einmal: Hybels' Verhalten ist inakzeptabel, aber so viel wir wissen ist es nie zu «richtigem» Sex gekommen. Er hatte mit Erotik eine Schwäche, aber er ist kein Vergewaltiger.
Frauen immer «Opfer»?
Auf der anderen Seite: Was ich als Europäerin als seltsam empfinde, sind die Reaktionen der betroffenen Frauen: Umarmung, unzulässige Vertrautheit im Gespräch bis hin zu Rückenmassage – warum wird das zugelassen? Die erste Umarmung kommt sicherlich überraschend, aber beim zweiten Mal würde bei mir eine Ohrfeige oder ein Boxstoss folgen. Unterhaltungen kann ich abklemmen, und für eine Rückenmassage inkl. Aufknüpfen des BH muss ich bereit sein. Bei Missbrauch und Vergewaltigung ist es verständlich, dass oft viel Zeit vergeht, bis etwas ans Licht kommt, aber bei einer Rückenmassage???
Damit will ich Bill Hybels in keiner Art und Weise entschuldigen; ich möchte aber Frauen ermutigen, auf Grenzüberschreitungen entsprechend zu reagieren, statt Dinge zuzulassen und zu schweigen und dann viele (30!) Jahre später aus einer Grenzüberschreitung eine Sex-Affäre zu machen.
Wo sind übrigens die Ehemänner, deren Frauen so etwas erleben? Stand und steht von denen keiner auf?
Manipulation der Minderheit
Frauen sind oft Opfer, das stimmt. Aber auch wir Frauen müssen Verantwortung für unser Verhalten übernehmen und auch in christlichen Kreisen aus der Rolle des «schwachen Geschlechts» heraustreten – ohne jetzt wieder Gegen-Aggression auszuüben. Ich befürchte, dass so etwas wie die «#Me too»-Bewegung (die von Willow Creek ausdrücklich befürwortet wurde!) sich zu einer neuen Minderheits-Machtbewegung entwickeln könnte, wie wir das bei verschiedenen Vertretern von Minderheiten beobachten können.
Ich hoffe, dass die angekündigte Untersuchungskommission differenziert und realistisch denkt und urteilt. Dass sie Wahrheit und Gnade verbindet. Und dass sie es schafft, dass nicht Jahrzehnte grossen Segens durch die Willow-Creek-Bewegung unbedacht zerstört werden. Einmal mehr hat Gott hier auf krummen Linien seine Melodien geschrieben, oder?
Regula Scharnowski (65) ist vierfache Mutter und wirkte 16 Jahre lang als reformierte Pfarrerin in Wattenwil BE. Mit ihrem Mann arbeitet sie seit über 2 Jahren auf einem Missionsprojekt in Bolivien.
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Datum: 14.08.2018
Autor: Regula Scharnowski
Quelle: Livenet