Stefan Schweyer

«Viele Freikirchen kommen aus dem Nischendasein heraus»

Geht es um Freikirchen, denken manche Zeitgenossen noch immer reflexartig an Sekten. Wie steht es um das Image der Freikirchen heute? Stefan Schweyer, selber Freikirchler und Assistenz-Professor an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, sagt im Interview mit kath.ch, warum Freikirchen früher mancherorts als Sekten verschrien wurden, was sie von Sekten unterscheidet und warum sich ihr Image verbessert habe.kath.ch: Ich habe den Eindruck, dass Freikirchen in den Medien oft schlecht wegkommen. Wie steht es heute aus Ihrer Sicht um das Image der Freikirchen in der Öffentlichkeit?
Dr. Stefan Schweyer, Professor an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel (Bild: zVg)

Stefan Schweyer: In den vergangenen Jahrzehnten hat es eine Entwicklung gegeben. Heute wird positiver über Freikirchen berichtet als noch vor 30 Jahren.

Das bedeutet, sie hatten früher ein schlechteres Image.
Ja. Vor allem, was das Sektenimage anbelangt. In Gegenden, wo das Religiöse homogen war oder nur durch eine Grosskirche bestimmt, wurde eine Freikirche früher sehr schnell in die Sektenecke abgestellt. In einem religiös vielfältigen Raum, wie wir ihn heute haben, geschieht das etwas weniger häufig.

Hat die Veränderung der Religionslandschaft in der Schweiz hin zu einem religiösen Pluralismus demnach zu einem besseren Image der Freikirchen geführt?
Ja. Aber es gibt noch weitere Gründe. Von Seiten der Freikirchen liegt es bestimmt auch daran, dass sie die Medien besser informieren. Zudem gibt es den Zusammenschluss der Freikirchen, den Verband evangelischer Freikirchen und Gemeinden in der Schweiz, der sich etwa an Vernehmlassungen beteiligt. Seit September vergangenen Jahres hat er Gaststatus bei der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz. Durch Beziehungsarbeit haben sich die Freikirchen selber mehr ins gesellschaftliche Gefüge eingebracht.

Sie haben das einstige Sektenimage der Freikirchen erwähnt. Ist der Vorwurf an die Adresse von Freikirchen, Sekten zu sein, überholt?
Der Sektenbegriff funktioniert sehr vielfältig. Die meisten Menschen haben indes zwei mögliche Konzepte im Kopf: Zum einen ist alles, was ausserhalb des Standards liegt, eine Sekte. Zu andern gibt es das soziologische Konzept. Gemäss diesem werden Gruppen mit einer hohen sozialen Kontrolle, einem Guru als Leiter, mit intransparenten Machtstrukturen und einem intransparenten Umgang mit Geld als Sekten betrachtet.

Nimmt man dieses soziologische Verständnis von Sekten zum Massstab, gab es bestimmt in der Geschichte der Freikirchen – und manchmal auch noch in der Gegenwart – Beispiele, bei denen sektiererische Anzeichen vorhanden waren. Ich gehe aber davon aus, dass das heute – zumindest bei den Freikirchen, die dem nationalen Verband angehören –  nicht zutrifft.

Woraus schliessen Sie das?
Bei diesen Freikirchen herrscht doch eine sehr hohe Transparenz. Man ist sehr offen für Menschen, die neu dazukommen. Und man macht auch kein Drama, wenn sich jemand wieder verabschiedet. Auch hat der Verband Freikirchen Schweiz eine Clearing-Stelle geschaffen, an die sich Personen mit Beschwerden richten können.

Wie grenzen Sie selber Freikirchen und Sekten voneinander ab?
Es gibt ganz unterschiedliche Arten, die Begriffe zu verwenden. Einen Unterschied macht zum Beispiel die Frage, ob Gemeinschaften davon ausgehen, dass in der Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe das Heil liegt. Das ist ein Konzept, dass die Freikirchen nicht vertreten.

Sondern?
Freikirchen sind davon überzeugt, dass das Heil exklusiv im Glauben an Jesus Christus liegt und gerade nicht gebunden ist an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppierung oder Gemeinde. Damit unterscheiden sie sich von sektenartigen Gemeinschaften, die die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe als einen heilsentscheidenden Moment betrachten.

Das ist ein Unterschied auf der theologischen Ebene. Freikirchen können darum auch andere Kirchen als Kirchen anschauen und wertschätzen. Und auf der sozialen Ebene stelle ich fest, dass viele Freikirchen aus dem Nischendasein herauskommen und sich als Teil einer grossen christlichen Bewegung und auch als Teil der Gesellschaft verstehen, mit der sie sich vernetzen wollen.

Ein Mitglied einer Freikirche sagte einst zu mir, ich könne als Katholikin nicht in den Himmel kommen, weil Katholiken die Heiligen anbeten würden. Wie kann man dieses Erlebnis in die Diskussion einordnen, die wir hier führen?
Es tut mir leid, dass Sie eine solche Erfahrung machen mussten und mit einer solch undifferenzierten Aussage konfrontiert wurden. Der Vorfall zeigt aber doch eines deutlich: Es ging um eine inhaltliche Frage, nämlich um die Frage, welche Rolle Heilige spielen. Der Vorwurf war nicht an die kirchliche Zugehörigkeit geknüpft. Die gleiche Aussage würde ein Mitglied einer Freikirche wahrscheinlich auch gegenüber jemandem machen, der zu Heiligen betet und nicht katholisch ist.

Das heisst, die Person ging davon aus, dass ich nicht in den Himmel komme, weil Katholiken etwas machen, das aus ihrer Sicht unchristlich ist?
Vermutlich. Und weil sie das Prinzip angetastet sah, dass das Heil exklusiv vom Glauben an Jesus Christus abhängt. Sie sind nicht die einzige Person, die solche Erfahrungen macht. Das gibt es immer wieder. Es handelt sich hier, soziologisch gesehen, um Abgrenzungsmechanismen: Es gibt kleine Freikirchen, die sich etwas verschupft fühlen und sich deshalb umso schärfer von den Grosskirchen abgrenzen, um ihre soziale Identität zu stärken.

In den letzten 20 Jahren hat sich das aber verändert. Viele Freikirchen betrachten es unterdessen als falsch, sich über Abgrenzung zu identifizieren. Und sie suchen nach neuen Wegen, wie sie sich selber verstehen wollen. Dadurch werden auch neue Formen der Zusammenarbeit mit anderen Kirchen möglich.

Zum Thema:
Die Sektenfrage: Sind Freikirchen Sekten?
Relevanz versus Wachstum?: Landes- und Freikirchen im Vergleich
Vom Leiden zum Handeln: Gottesdienst ist mehr als Predigt

Datum: 17.06.2018
Autor: Barbara Ludwig
Quelle: kath.ch

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