Ein gewagtes Experiment
«Sie haben diese Woche durchschnittlich X Stunden und X Minuten täglich an Ihrem Bildschirm verbracht.» – «Jeden Sonntagmorgen meldet sich mein Handy und präsentiert mir diese Nachricht, hell leuchtend und unwiderstehlich wie eine Laterne für eine Motte», berichtet der Redner und Podcaster Carlos Whittaker.
«Ironischerweise bekomme ich diese Nachricht immer während des Gottesdienstes. Und genauso regelmässig wische ich sie weg (natürlich, weil ich der Predigt aufmerksam zuhöre). Ich möchte gar nicht wissen, wie viel Lebenszeit ich damit verschwende, auf diesen Bildschirm zu starren, der meine Aufmerksamkeit überall hin zieht.»
Eine atemberaubende Rechnung
Eines Sonntags beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen. «Laut der Benachrichtigung verbrachte ich durchschnittlich sieben Stunden und 23 Minuten pro Tag mit meinem Handy. Ich multiplizierte das mit sieben Tagen und stellte fest, dass ich fast 50 Stunden pro Woche vor dem Bildschirm sass – zwei komplette Tageszyklen. Hochgerechnet waren das mehr als drei Monate im Jahr. Und noch eine Rechnung: Wenn ich 73 Jahre alt werde, werde ich in den verbleibenden 25 Jahren mehr als sieben Jahre meines Lebens mit dem Handy verbringen», rechnet Carlos Whittaker vor.
Seinen Lebensunterhalt verdient er natürlich mit dem Handy. «Ich erzähle Geschichten auf Instagram, teile Worte, die hoffentlich anderen Menschen helfen, Freiheit zu finden. Über mein Handy habe ich mehr als eine Million Dollar für Bedürftige gesammelt. Es ist also nicht alles schlecht, oder? Natürlich nicht. Aber ich wusste trotzdem, dass ich diese sieben Jahre nicht verlieren wollte.»
Das Experiment
Als er seiner Frau von seiner durchschnittlichen Bildschirmzeit erzählte, stellte sie ihm eine einzige Frage: «Und was willst du dagegen tun?» Er wusste, dass er etwas Radikales tun musste. Und genau das tat er. «Ich beschloss, sieben Wochen lang auf keinen einzigen Bildschirm zu schauen. Kein iPhone, keine Apple Watch, kein iPad. Kein Fernseher, kein Laptop, kein Tablet. Und in diesen sieben Wochen wollte ich mich nicht einfach in eine Berghütte verkriechen und die Zeit absitzen. Nein, ich suchte nach Gemeinschaften, die nicht nur anders mit Technologie umgehen, sondern auch einen tiefen Glauben leben.»
Auch die Frage nach dem Warum war für ihn klar: «Weil ich ziemlich sicher war, dass diese Bildschirme die Stimme Gottes in meinem Leben übertönten. Als christliche Leiter vergessen wir manchmal, dass wir eigentlich keine Bildschirme brauchen – die Kirche hat Jahrtausende ohne sie existiert. Vielleicht haben wir eine Beziehung zu ihnen aufgebaut, die wir nie hätten aufbauen sollen. Vielleicht haben diese Bildschirme Gott in eine Schublade gesteckt, in die er nie gehört hat.»
«Nicht alle würden das aushalten»
Zuerst lebte er mit 20 Benediktinermönchen in der «Saint Andrews Abbey» in Südkalifornien, die 23 Stunden am Tag schweigen. Dann zog er auf eine amische Schaffarm in Holmes County, Ohio, der grössten amischen Gemeinde in den USA.
Das sei aber nicht jedermanns Sache: «An alle Introvertierten, die jetzt denken: ‘23 Stunden Stille am Tag? Ein Traum’ – glaubt mir: Nein, das würdet ihr nicht aushalten. Vielleicht eine Woche. Aber ich verspreche euch, Gott hat uns geschaffen, um ein bisschen mehr zu reden. Trotzdem hat meine Zeit im Kloster mein Leben verändert. Denn wenn man die Lautstärke des Lebens reduziert, wird die Stimme Gottes lauter. Und ist das nicht das Ziel jeder geistlichen Arbeit – die Stimme Gottes zu hören, den ganzen Tag, jeden Tag?»
Stille und Identität
Bei den Benediktinermönchen lernte er eine Lebensweise kennen, die der Stille und dem Gebet den Vorrang gibt. «Im Vergleich dazu war meine 14-jährige Erfahrung in der Gemeindearbeit von Hektik geprägt. Die geordnete, stabile Lebensweise der Mönche schuf einen Raum, in dem die Stimme Gottes deutlich zu hören war. In dieser Stille wurde mir bewusst, dass ein grosser Teil meines Selbstwertgefühls auf der Bestätigung durch andere beruhte – auch in der Gemeindearbeit.»
Wahre geistliche Leiterschaft basiere auf Sein und nicht auf Tun, beobachtet Carlos Whittaker. «Jesus selbst zog sich oft an einsame Orte zurück, um mit dem Vater zu sprechen. Leiter sollten bewusst Zeiten der Stille einplanen – ohne Bildschirm, mit dem einzigen Ziel, bei Gott zu sein. Ich glaube sogar, dass ein ganzer bildschirmfreier Tag pro Woche notwendig ist. Beginnen Sie mit zwei Stunden und steigern Sie sich allmählich. Diese Praxis wird Ihre Identität in Christus verankern und Ihr Herz auf den wahren Zweck Ihres Dienstes ausrichten.»
Gottes Tempo begegnen
Im Kloster fiel ihm auf, wie langsam die Mönche alles taten, von den Gesprächen bis zum Gehen. «Zuerst irritierte mich das, aber dann erinnerte ich mich daran, wie Jesus sich bewegte. In den Evangelien finde ich keinen Hinweis darauf, dass Jesus und seine Jünger es eilig hatten. Sie gingen überall hin.»
Carlos Whittaker prägte den Begriff «Gottestempo» – ein langsamer, bewusster Lebensrhythmus, der Tiefe statt Breite fördert. Die moderne Kirche sei oft besessen von Wachstum und Reichweite, aber Jesus lebte Geduld und Zweckmässigkeit.
Gemeinschaft wiederbeleben
Auf der Schaffarm der Amischen lernte Carlos Whittaker die Bedeutung von Gemeinschaft kennen. «Die Amischen schätzen Beziehungen und verbringen viel Zeit zusammen am Tisch. Wie wäre es, in Ihrer Kirche ‘bildschirmfreie Sonntage’ einzuführen, an denen die Menschen echte Bibeln mitbringen und handschriftliche Notizen machen? Solche Gesten können echte, dauerhafte Gemeinschaften fördern.»
Carlos Whittaker zieht das Fazit: «Meine Erfahrung war keine Entkoppelung, sondern eine Wiederverbindung – mit Gott und mit mir selbst. Am Ende glaube ich, dass der Weg, Gottes Stimme zu hören, nicht darin besteht, schneller zu werden, sondern langsamer.»
Hier gehts zu einem Talk zum Thema Entschleunigung:
Zum Thema:
Talk mit Sacha Ernst: Verbunden mit dem Auferstandenen
Wenn alles zu viel wird: Wie man sein Leben entschleunigen kann
Reto Lussi und Dani Weber: Wenn das Lebenstempo zu hoch ist
Datum: 11.01.2025
Autor:
Carlos Whittaker / Daniel Gerber
Quelle:
Outreach Magazine / gekürzte Übersetzung: Livenet