Hat mich Gott verlassen?
Mit einer befreundeten Familie verbrachten wir einige Tage in Arosa. Ich hatte da die Ehre, für die Kinder den Samichlaus zu performen. Kann ich übrigens ganz gut, falls Sie mich mal buchen möchten.
Während unser jüngerer Sohn schlief, geriet unser älterer Bub (bald Dreijährig) aus dem Häuschen. Er hatte dem Samichlaus viel Wichtiges mitzuteilen. Es berührte mich, meinen Jungen zu erleben, wie er mit mir redete, ohne zu realisieren, dass ich es bin. Seine Freude, seine Begeisterung, seine charmante Frechheit.
Als ich einige Zeit später ohne Verkleidung wieder auftauchte, erzählte er mir jede Einzelheit. Und fragte dann plötzlich: «Papa, wo warst du, als der Samichlaus kam? Ich bin traurig, dass Du nicht da warst.»
Nicht da oder sogar in der Hauptrolle?
Worte mit Kraft. Ich hätte ihm am liebsten zugerufen, dass ich nicht nur dabei war, sondern dass ich die Hauptrolle spielte. Durfte ich aber nicht, denn er hätte es nicht verstehen können. Ich muss damit leben: Mein Sohn ist traurig, dass ich fehlte.
Ich erkannte mich wieder. Wie oft warf ich Gott schon vor, in meiner Not nicht da zu sein. Oder wie oft übersah ich Gott in guten Momenten? Er will sich mit mir freuen, aber ich kapiere es nicht, dass er gerade der Hauptdarsteller war.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich mache um Himmels Willen meinem Sohn keinen Vorwurf. Es spricht ja für meine Schauspielfähigkeiten und sein kindliches Alter, dass er mich nicht erkannte. Aber ich erlebte etwa diesen Schmerz, den Gott wohl mehrfach pro Tag wegen mir empfindet, wenn ich ihn mal wieder krachend übersehe und ihm unterstelle, er sei nicht da.
Mich von Gott verlassen fühlen
Ich hoffe für Sie, dass Sie reifer sind als ich. Wohl mein Hauptproblem im Leben: Ich habe schnell das Gefühl, Gott habe mich verlassen. Kaum läuft etwas nicht so, wie ich mir es ausmale, beginne ich zu zweifeln und halte mich mit Vorwürfen nicht zurück.
Wahnsinn! Denn Gott hat mich ins erfreulichste Land der Welt gestellt und mit einer wunderbaren Frau und zwei grossartigen Söhnen gesegnet. Ich hätte allen Grund nicht zu zweifeln. Erstrecht, da Gott nicht mal seinen Sohn Jesus verschonte, um mich zu retten. Aber kaum ringe ich mit einem Gebetsanliegen etwas länger, werde ich ungehalten. Wo bist Du, Gott? Warum hast Du mich verlassen? Es kann nicht sein, dass mich dieser Gott liebt und doch zulässt, dass das passiert.
Ermahnung und viel Trost
Ach, wäre es wenigstens in guten Momenten so, dass ich wunde Knie bekäme, weil ich Gott pausenlos dankte. Nein, in tollen Zeiten denke ich oft an alles, nur lange nicht daran, dass die Hauptrolle soeben hätte Jesus spielen können.
All diese Gedanken prägten mich in den letzten Tagen. Aber wissen Sie was? So grossartig an Jesus ist, dass er mich nicht nur ermahnt – er ermutigt und tröstet mich vielmehr. Denn man kann die Geschichte auch umdrehen: Schmerzt es Gott wirklich, wenn ich ihn nicht erkenne? Falls ja, wie überragend muss seine Liebe für mich sein?
Und wie gross ist seine Liebe, dass er trotzdem täglich aushält, dass ich ihn übersehe? Dass er mich dennoch immer wieder aufs Neue tröstet, mich fördert, an unsere Freundschaft glaubt und bei mir bleibt bis ans Ende aller Tage? So gross, dass Gott mich nie verlassen kann und nie die Hoffnung aufgibt, dass diese Sicherheit irgendwann endlich mein Herz erreicht.
Zum Autor:
Sam Urech ist 36-jährig, verheiratet und Vater von zwei
Buben. Mit seiner Familie besucht er die Freikirche FEG Wetzikon. Sam hat viele
Jahre beim Blick als Sportjournalist gearbeitet und ist heute Inhaber der
Marketing Agentur «ratsam». Er schreibt jeden Freitag auf Nau.ch seine Halleluja-Kolumne. Sollten Sie mit ihm Kontakt aufnehmen wollen, machen Sie das am besten via Facebook.
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Datum: 11.12.2020
Autor: Sam Urech
Quelle: Livenet