Einsicht statt Strafe

«Mir häbe Sorg!»

Der Schulleiter und ehemalige Schiedsrichter, Bruno Grossen
Bruno Grossen aus Frutigen war bis 2010 Schiedsrichter in der Super League. Heute arbeitet er als Schulleiter in Reichenbach und hat dort das Motto «Mir häbe Sorg!» eingeführt. Was das ganz praktisch bedeutet, erklärt er im Talk mit Flo Wüthrich.

«Das Fussballreglement hat 138 Seiten – trotzdem kann man sich uneins sein, welche Entscheidung gerecht ist», weiss Bruno Grossen. Er habe darunter gelitten, als Schiedsrichter immer Strafen aussprechen zu müssen. Seit 2020 ist er Gesamtschulleiter von sechs Schulen in Reichenbach i.K. – vom Kindergarten bis zur Oberstufe. Der 55-Jährige hat bei seinem Amtsantritt statt eines dicken schriftlichen Reglements ein Motto eingeführt, nach dem gearbeitet wird.

Man sieht es in der Eingangshalle, das Bild einer kleinen Pflanze, die umgetopft wird, dazu der Slogan: «Mir häbe Sorg!». Grossen erklärt: «Wir gehen davon aus, dass Menschen zarte Pflänzchen sind.»  Die Kindheit sei eine sensible Phase. Kinder würden ständig wieder «umgetopft», von Lehrperson zu Lehrperson, von Klasse zu Klasse, oft auch innerhalb der Familie. «Entsprechend sorgfältig wollen wir miteinander umgehen.»

Die Eltern mit ins Boot holen

Slogan: «Mir häbe Sorg!» in der Eingangshalle der Schule Reichenbach

Seine Schule bleibe trotzdem nicht von allen Problemen verschont, gibt er zu. Es gebe auch bei ihnen Mobbing oder Vandalismus. Aber dann redeten die Pädagogen mit den Kindern und zeigten ihnen die Folgen auf. Missetäter am freien Nachmittag zu Hilfseinsätzen mit dem Schulwart zu verdonnern, sei für sie keine Option. Auch als eine Lehrperson ihn bat, das Kollegium vor den Eltern zu schützen, konterte er. «Wir müssen uns nicht vor ihnen schützen, sondern sie ins Boot holen. Eltern wollen auch, dass es ihren Kindern gut geht und sie ihr Potential nutzen können.»

Gehorsam durch Strafe?

«Durch Strafe zu Gehorsam zu erziehen – das habe ich auf dem Fussballplatz erlebt. Heute muss ich das nicht mehr haben», stellt Grossen klar. Er habe statt einem Reglement ein Prinzip gewählt. Wir konfrontieren die Kinder mit Fehlverhalten, zeigen ihnen auf, was daraus resultiert, und bitten sie dann: «Heb Sorg!» Ganz einfach sei das nicht immer. Kürzlich sei ein Neuntklässler so provoziert worden, dass er seinem Kontrahenten eine blutige Nase schlug. Als dessen Mutter vom Schulleiter verlangte, dass er nun nicht nur reden, sondern eingreifen solle, wollte der wissen: «Dann erwarten Sie, dass ich den Täter morgen abpasse und ihn auch schlage?»

Gerade in so herausfordernden Situationen gebe keine andere Option, als ins Gespräch zu kommen, findet er. Doch er gehe mit dem Schüler seinen Einsatz von Gewalt an, würde auch eine Antiaggressions-Therapie verfügen, wenn er dies als sinnvoll erachte. Doch Kinder unter Androhung von Strafe zu Gehorsam zu erziehen, das wolle er nicht. Er folge lieber seinem inneren Schiedsrichter, dem ein respektvoller Umgang wichtig und der fähig ist, im Moment wertschätzend zu reagieren.   

Auf das Wesentliche besinnen

Bruno Grossen fordert auf: «Wir müssen uns zurückbesinnen auf das Wesentliche im Umgang miteinander. Wir müssen üben, anständig miteinander umzugehen und das Zusammenleben miteinander trainieren.» Dies sei ein Kernthema der Schule. Es gibt viele Schulen, die sich bei Grossen erkundigen, wie er das umsetze. «Sie merken, dass es nicht zielführend ist, ständig nur zu reagieren.» Wenn Unsicherheit herrsche, würde oft ein strenges Reglement eingeführt, beobachtet Grossen.

«Die Schule hat ein Stück weit ihre Autorität verloren.» Es sei ein Problem des Zeitgeistes, dass von der Schule sehr viel erwartet werde. Viele meinten, sie wüssten besser, wie man agieren müsse, stellten alles in Frage und hinterfragten sie ständig. Das Motto «Mir häbe Sorg!» sei ein Zeichen der neuen Autorität, die in Schulen am Wachsen sei. Dies erfordere jedoch mehr Arbeit zur Etablierung grundlegender Werte. «Ich wünsche mir, dass wir die Fehlerhaftigkeit von Menschen akzeptieren.»  Auch er entscheide nicht immer richtig: «Menschen machen Fehler. Das lässt sich nicht vermeiden und könnte einfach wieder akzeptiert werden.»

Umgang mit dem Handy trainieren

«Kinder müssen lernen, mit dem Handy umzugehen. Es zu verbieten oder wegzunehmen, ist nicht sinnvoll.» Es sei die Aufgabe der Eltern, die Zeit zu limitieren, während der sie es nutzen dürften. Die Schule unterstütze sie dabei. «Im Unterricht haben Handys in unserer Schule nichts zu suchen», erklärt Bruno Grossen. Das wüssten die Kinder, auch wenn das nicht schriftlich bekannt gegeben werde.

Regeln schützen

Nun will Florian Wüthrich von Bruno Grossen wissen, welches Verhältnis er zur Bibel hat: «Die Bibel wird von etlichen auch als Regelwerk betrachtet, zum Beispiel die 10 Gebote. Was denkst du darüber?» Grossen gibt zu: «Die Bibel betrachte ich etwas ambivalent. Aber würden die Menschen die 10 Gebote anwenden, hätten wir viel weniger Probleme in der Welt. Die Bibel zeigt vieles vorbildlich auf. Aber sie ist ein dickes Buch und kann sehr verschieden ausgelegt werden.» Dennoch findet er: «Zueinander Sorge zu tragen – das könnte in der Bibel stehen.»

Sehen Sie sich den Livenet-Talk mit Bruno Grossen an:

 

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Datum: 04.08.2023
Autor: Mirjam Fisch-Köhler
Quelle: Livenet

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