Tolstoi: Ein Leben lang fasziniert von der Bergpredigt
Schade, dass Putin nicht Leo Tolstois Buch «Krieg und Frieden» las. Dann hätte er bestimmt seine unsinnigen Kriege nicht angezettelt. Vielleicht war es ihm zu aufwändig mit 1'500 Seiten. Es erzählt die Geschichten verschiedener Einzelpersonen und Familien im französisch-russischen Krieg vor über 200 Jahren. Überraschenderweise stellt Tolstoi allerdings die Leiden der Angreifer genauso dramatisch dar wie diejenigen seiner Landsleute. Der Leser wundert sich zunehmend, auf welcher Seite Tolstoi denn überhaupt steht, nur um herauszufinden, dass er mit allen Beteiligten mitleidet. Sein Buch stellt in Wirklichkeit ein Stück Feindesliebe dar.
Diese hat er aus der Bibel gelernt. Was Tolstoi sein Leben lang faszinierte, war die Bergpredigt. Die Kapitel 5 bis 7 des Matthäusevangeliums haben ihn immer wieder von Neuem inspiriert, die Welt anders zu sehen als der Durchschnittsmensch. Er war reicher Erbe eines grossen russischen Guts, dessen Bauern bei ihm verschuldet waren. Doch im Jahre 1882 versuchte er, auf seinem Gutsbesitz Jasnaja Poljana ein reines Urchristentum in Form einer ländlichen Genossenschaft zu begründen. Als sogenannte Tolstojaner lebten seine Anhänger in dieser Form auch nach seinem Tod weiter.
Freundschaft mit Gandhi
In seiner Schrift «Das Reich Gottes ist inwendig in euch» plädierte er aufgrund der Worte von Jesus für eine Trennung von Kirche und Staat. Er erklärte alle Kriege für unchristlich. Das Buch löste ein unerwartetes Echo aus. Im fernen Indien wurde es von einem jungen Mann namens Mahatma Gandhi gelesen. Gemäss dessen eigenen Worten «überwältigte» ihn das Buch und «hinterliess einen bleibenden Eindruck» (in «Eine Autobiographie oder: Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit»).
Danach blieben sie über Jahre im Briefkontakt. Tolstois Idee des passiven Widerstandes wurde schliesslich durch Gandhis Organisation von 1918 bis 1947 in Form von landesweiten gewaltfreien Streiks und Protesten realisiert. Indem Tolstoi Gandhi ermutigte, Indien nicht durch Waffen, sondern durch die Bergpredigt von den Engländern zu befreien, rettete er indirekt unzählige Menschenleben.
Auswirkungen in Südafrika
Gandhi lebte auch längere Zeit in Südafrika, wo er sich gewaltlos für die Rechte der Inder einsetzte und unter anderem den südafrikanischen Erzbischof Desmond Tutu beeinflusste, welcher sich später für die Befreiung der Afrikaner von der weissen Vorherrschaft einsetzte. Tutu wurde berühmt dafür, dass er sich zwischen bis zu den Zähnen bewaffnete weisse Polizisten und schwarze Demonstranten stellte und sie miteinander versöhnte. Er riskierte auch wiederholt sein Leben, indem er Denunzianten aus den Händen von zornigen Menschenmengen rettete, welche sie lynchen wollten. Die weitgehend gewaltlose Übergabe der weissen Regierung an die Bevölkerungsmehrheit war grossenteils sein Verdienst.
«Gewaltlosigkeit ist eine Waffe»
Tolstoi war kein Politiker. In Russland, seiner eigenen Heimat, erreichte er keine Veränderung. Aber durch ihn wurden Mahatma Gandhi, der Befreier Indiens, und durch diesen wiederum Desmond Tutu, der Befreier Südafrikas, entscheidend beeinflusst. Aber damit nicht genug. 1959 besuchte der amerikanische Baptistenpfarrer Martin Luther King Indien, um zu lernen, wie die Afroamerikaner gewaltlos gleiche Rechte wie die Weissen durchsetzen könnten. Pastor King kannte natürlich die Bergpredigt. Aber wie man sie praktisch in der Politik umsetzen könnte, lernte er in Indien von Gandhi, der wiederum von Tolstoi inspiriert gewesen war. Pastor King sagte: «Gewaltlosigkeit ist eine machtvolle und gerechte Waffe. Fürwahr, sie ist eine einzigartige Waffe in der Geschichte; sie stösst zu, ohne Wunden zu schlagen, und sie adelt den, der sie handhabt.»
Die weissen Feinde zu lieben, bedeutete für King, ihnen vor Augen zu führen, dass sie sich selbst schadeten, wenn sie die Bevölkerung des Landes entzweiten. Sein Weg dazu war gewaltfreier Widerstand.
Feindesliebe schon im Alten Testament
Hat erst Jesus die Feindesliebe erfunden? Nein, praktische Beispiele dazu finden sich schon im Alten Testament: «Wenn du dem Rind oder Esel deines Feindes begegnest, die sich verirrt haben, so sollst du sie ihm wiederbringen. Wenn du den Esel deines Widersachers unter seiner Last liegen siehst, so lass ihn ja nicht in Stich, sondern hilf mit ihm zusammen dem Tiere auf.» (2. Mose Kapitel 23, Verse 4f)
«Freu dich nicht über den Sturz deines Feindes, dein Herz juble nicht, wenn er strauchelt, damit nicht der Herr es sieht und missbilligt und seinen Zorn von ihm abwendet.» (Sprüche Kapitel 24, Verse 17f).
«Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen, hat er Durst, gib ihm zu trinken; so sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt und der Herr wird es dir vergelten.» (Sprüche Kapitel 25, Verse 21f)
Nicht ein moderner Europäer, sondern das Alte Testament hat die Feindesliebe erstmals in der Weltgeschichte formuliert.
Sehen Sie sich ein Video zum Thema an:
Zum Thema:
Dossier: Faktencheck Christentum
Faktencheck Christentum: Enthält die Bibel wirklich 101 Fehler?
Faktencheck Christentum: Genial war Freuds Frage, nicht seine Antwort
Faktencheck Christentum: Ist Nietzsches Kritik am Christentum berechtigt?