Haiti: «Phase extremer Unsicherheit»
Was weiss man bisher zu den Umständen der Ermordung des haitianischen Präsidenten?
Michael Kisskalt: Vermutlich
wurde der Präsident von kolumbianischen Söldnern ermordet. Die
Gemengelage ist aber noch undurchsichtig. Die Schuldigen werden noch
gesucht. Auch die Rolle des Präsidenten selbst in diesen Machtstrukturen
ist unklar.
Was sind die drängendsten Probleme Haitis?
Das
Land befindet sich in einer Phase der extremen Unsicherheit. Dazu
gehören neben den politischen Spannungen auch Korruption und extreme
Armut. Die Pandemie belastet das Land bisher nicht so stark, weil das
Land bis auf wenige geographische Ausnahmen kaum vom Tourismus lebt.
Was bedeutet die Situation für die Menschen vor Ort?
Hier
gibt es aus meiner Sicht geographische Unterschiede. Im Süden ist die
Situation deutlich dramatischer als im Norden. Der Süden ist
abgeschnitten von der Versorgung. Dort treiben gewalttätige Gangs ihr
Unwesen. Einige christliche Gemeinden hatten dort Flüchtlinge
aufgenommen, aber das ist aktuell nicht mehr möglich.
Was macht die Situation so schwierig?
Armut
gab es in Haiti schon immer, aber das Land war früher sicherer. Die
Gangs treiben ihr Unwesen nicht mehr nur in den Armenvierteln, sondern
haben die Mittelschicht erreicht. Manche behaupten sogar, dass der
Präsident Teil dieser Bewegung war. Das ist alles sehr vernebelt und
verschleiert. Es sollten ja auch bald Präsidentenwahlen stattfinden.
Welche Rolle spielt die Weltpolitik für Haiti?
Haiti
kommt nicht aus der eigenen Misere heraus. Es hatte sich als eines der
ersten Länder von seiner Kolonialmacht Frankreich befreit. Allerdings
gingen damit historisch hohe Reparationszahlungen einher. Darunter
leidet Haiti bis heute. Der frühere amerikanische Präsident Bill Clinton
hatte einmal versucht, dieses System zu durchbrechen. Aber vielleicht
hatte er zu hehre Vorstellungen.
Welche Hoffnung haben Sie für das Land?
Es
gibt viele fähige Leute. Aber diese konzentrieren sich hauptsächlich
auf die Mikrostrukturen. Sobald es darüber hinaus geht, sehen sie das
nicht mehr als Betätigungsfeld. Viele Menschen protestieren ja auch
gegen die Zustände vor Ort. Allerdings reagieren die Machthaber immer
nur dann, wenn es ihnen wirklich nützt.
Inwiefern engagieren sich Christen bei den Protesten?
Sie
sind auch dabei. Aus dem christlichen Umfeld wurde allerdings bisher
noch niemand in eine verantwortliche Position gewählt. Hier spielt
vermutlich auch wieder die Schere zwischen Norden und Süden eine Rolle.
Während der Norden fast ungehindert fast regulär weiterleben kann, haben
es die Christen im Süden deutlich schwerer. Christen in Haiti denken
evangelistisch, diakonisch und politisch. Allerdings ist das in der
jetzigen Situation eine Sisyphos-Arbeit. Bei einem Besuch vor Ort haben
wir die Menschen gefragt, was wir für sie tun können. Wir haben die
Antwort bekommen, dass wir die ersten waren, die das gefragt hätten. Das
war für mich bezeichnend.
Zur Person:
Michael Kisskalt (geboren 1964) ist seit 2014 Rektor der
Theologischen Hochschule Elstal. Aktuell hat er eine Professur für
Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie inne. Er ist
verantwortlich für die Partnerschaft des BEFG mit der Convention
Baptiste de Haiti von 2011-2017.
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Datum: 15.07.2021
Autor: Johannes Blöcher-Weil
Quelle: PRO Medienmagazin | www.pro-medienmagazin.de