Gute Theologie fördert gelingendes Leben
Livenet: Eines Ihrer Schwerpunktthemen lautet «Vergebung und Versöhnung». Steht dahinter ihre persönliche Biografie?
Miroslav Volf: Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die Vergebung und Versöhnung praktiziert hat; ich wurde von einem Kindermädchen grossgezogen, das einen fröhlichen und gewaltlosen Lebensstil verkörperte. Ausserdem wuchs ich in einer Minorität auf, in einer christlichen Gemeinschaft, die von einem mehr oder weniger kirchenfeindlich gesinnten Umfeld umgeben war. Dieser Umstand hätte sicherlich das Potential gehabt, eine Reaktion zu erzeugen und mich zu einer Person zu machen, die nach Kontrolle und Vergeltung aus ist. In vielen anderen Biografien und auch in meiner wurde ein konkretes Verständnis des christlichen Glaubens – Ich nenne es die Umarmung (embrace) eines authentisch christlichen Glaubens – bestimmend. Sie hat mich in Richtung Vergebung und Versöhnung geführt.
Können Sie das Konzept «Exclusion and Embrace» kurz beschreiben?
Wir leben in einer pluralistischen Welt, in der unsere Identitäten ständig hinterfragt werden, manchmal durch friedfertige Begegnungen, manchmal durch sozialen Druck und zuweilen auch durch unverhohlene Gewalt. Wenn wir eine defensive Haltung einnehmen, schliessen wir andere aus unserer Identität aus und bestehen darauf, dass unsere persönlichen, kulturellen, religiösen oder nationalen Identitäten unvermischt sind.
Im Gegensatz zur Exklusion (exclusion) steht die Umarmung (embrace) für eine Überzeugung, dass der Andere immer schon zu uns gehört und wir zu ihm. Sie steht somit für eine bestimmte Art und Weise der Erhaltung von Grenzen, die von der Liebe geprägt ist und in welcher beide Seiten ihre Grenzen – und damit ihre Identitäten – bestätigen und sie dennoch durchlässig zu lassen. So lernen wir voneinander, uns den jeweils Anderen anpassen, schaffen in uns Raum für sie und schenken uns ihnen.
Die Welt umarmen? Hat das nicht seine Grenzen?
Natürlich kann nicht alles umarmt werden; die dreckigen Schuhe müssen draussen bleiben. Diese komplexe Art des Aushandelns von Identität ist eine Voraussetzung für ein Miteinanderleben in einer komplexen Welt als Familien, als Gemeinschaften, als Nationen und als globale Gemeinschaft von Staaten. Das Bild der Umarmung geht auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn zurück, in dem der Vater den zurückkehrenden Sohn umarmt (Lukas-Evangelium, Kapitel 15, Verse 11-32).
Die körperliche Umarmung steht symbolisch für die Annahme und die Aushandlung von Identität: Weil der Vater nicht ohne Sohn sein wollte, musste seine Identität einen Wandel vollziehen: Er musste akzeptieren, vom Vater einer vereinten Familie zum Vater eines verschwenderischen Sohnes und schlussendlich, nach der Rückkehr dieses Sohnes, zum Vater eines verärgerten älteren Sohnes zu werden… Seine Identität musste sich verändern – damit er bleiben konnte, wer er war: der liebende Vater, der nicht ohne seine Söhne sein möchte. Derselbe zu bleiben und sich doch zu verändern – beides wurde von der Liebe des Vaters bestimmt.
Sie sprachen auch schon von einem «Traum der theologischen Erneuerung». Was meinen Sie damit?
Wenn man die Theologie um die Idee des guten Lebens herum organisiert – Leben, das gut funktioniert, das gut geführt wird, das sich gut anfühlt – alle drei in ihrer gegenseitigen Durchdringung – dann befindet man sich auf dem Weg der Erneuerung. Die heutige Theologie steckt in einer tiefen Krise. Nur sehr wenige Menschen beschäftigen sich damit; sehr wenige Wissenschaftler oder alltägliche Menschen respektieren sie. Es gibt viele Gründe für diese Krise. Einer dieser Gründe ist, dass die Theologie vergessen hat, sich auf Gott und seine Beziehung zur Welt zu konzentrieren, dass sie die Welt und unser Leben nicht im Licht von Christus interpretiert, dass sie sich von der Frage nach dem guten Leben entkoppelt hat – genau die Frage, mit welcher sich Menschen heute beschäftigen möchten, aber nicht genau wissen, wie. Und sie wissen nicht, wie sie sich damit beschäftigen können, weil auch unsere Universitäten «den Sinn des Lebens abgeschrieben haben» wie einer meiner Kollegen schreibt.
Sehen Sie Perspektiven für die Kirchen in Europa? Einer Kirche, die dem Säkularismus und dem Diktat der Beliebigkeit entgegentritt?
Ich bin genügend beunruhigt über den Säkularismus oder über das «Diktat der Beliebigkeit», dass ich darüber schreibe. Aber es ist nicht mein Hauptanliegen. Ich sorge mich eher über die Authentizität unserer eigenen Leben als Christen und über die Authentizität unserer Vorstellungen von gelingendem Leben. Wir wählen die Zeit nicht aus, in der wir leben. Wir wählen das Leben, das wir leben in der Zeit, die uns zugeteilt ist. Lasst uns nicht über schlechte Zeiten klagen; lasst uns stattdessen leben: mit Freude über das gute Leben, zu welchem Gott uns berufen hat. Ich glaube, für Gemeinschaften, welche ein solches Leben verkörpern und fähig sind, es mit intellektueller Redlichkeit und mit Vorstellungskraft zu artikulieren, stehen die Aussichten gut.
Zur Person:
Miroslav Volf ist Professor für Systematische Theologie an der Yale-Universität und Gründer und Direktor des Yale Center for Faith & Culture. 1956 im heutigen Kroatien geboren, erlebte er Ablehnung und Verfolgung und musste das Land verlassen. Er studierte Volf in Zagreb und am Fuller Theological Seminary Theologie. Dort entwickelte er Konzepte zur Friedensförderung und zum interreligiösen Dialog insbesondere mit dem Islam.
Miroslav Volf ist Hauptreferent der Studientage 2015 des Instituts für ökumenische Studien der Universität Fribourg und des Studienzentrums für Glaube und Gesellschaft. Die Studientage finden vom 10. bis 12. Juni 2015 an der Universität Fribourg statt. Weitere Informationen unter www.glaubeundgesellschaft.ch
Zur Webseite:
Zur Tagung in Freiburg mit Miroslav Volf
Miroslav Volf auf Wikipedia
Datum: 13.05.2015
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet