Warum die christliche Kirche Alternativen anbieten kann
Über Monate hinweig haben sich die Agenturen mit der immer wieder gleichen Nachricht aus dem «Fernen Osten» überschlagen: Palästinenser greifen Israel an, Israel übt Vergeltung und schlägt zurück, Hisbollah aus dem Libanon feuert Raketen auf Israel, Israel übt Rache und wirft ihre Bomben auf den Libanon. Und dann sind da noch die Huthi-Milizen aus dem Jemen und das Mullah-Regime im Iran.
Aggression folgt auf Aggression, Rakete auf Rakete, Drohne auf Drohne. Und immer wieder sterben dabei unschuldige Menschen, Zivilisten, Frauen und Kinder. Und ein Ende der Gewalt ist kaum abzusehen. Geradezu umgekehrt, die gewaltorientierte Antwort der verfeindeten Völker, die Einschüchterung bewirken sollte, löst nur noch den nächsten Schlag aus.
Machtstreben führt zur Eskalation
Die Frage ist deshalb dringend: Welchen Sinn macht das Vergeltungsgesetz in den Spannungsgebieten dieser Erde? Sind noch mehr Raketen und Bomben wirklich ein probates Mittel, den Feind zur Vernunft zu bringen? Immerhin hat man ja gerade so und nicht anders seit Menschengedenken gehandelt. Schon im Alten Testament heisst es: «Wenn aber doch Schaden entsteht, wird die Strafe wie folgt festgelegt: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuss um Fuss, Brandwunde um Brandwunde, Verletzung um Verletzung, Strieme um Strieme.» (2. Mose Kapitel 21, Verse 23-25)
So ist das Prinzip der Vergeltung korrekt beschrieben: Gleiches muss mit Gleichem vergolten werden. Die Rache soll im selben Masse ausfallen, wie die Schuld entstanden ist. Die Regel soll jedoch nicht nur eine Gleichstellung zwischen der geschädigten Partei und der Täterschaft herbeiführen, sondern die Menschen auch vor möglichen Eskalationen schützen. Denn nachdem die angemessene Wiedergutmachung geleistet worden ist, ist dann auch alles gut. Die Vergeltung wird auf eine einzelne Tat begrenzt, um eine Anreihung von Gewalttaten zu verhindern.
Übrigens: Die Rache selbst sollte das Volk Gottes ihrem Herrn überlassen, wie Apostel Paulus in Römer Kapitel 12, Vers 19 schreibt: «Liebe Freunde, rächt euch niemals selbst, sondern überlasst die Rache dem Zorn Gottes. Denn es steht geschrieben [5. Mose 32,35]: ‚Ich allein will Rache nehmen; ich will das Unrecht vergelten‘, spricht der Herr.» Vielmehr, «Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen. Wenn er durstig ist, gib ihm zu trinken.» (Sprüche Kapitel 25, Vers 21)
Wird dieses alttestamentliche Prinzip heute in den Spannungsgebieten so ausgeführt? Und würde selbst Gott in seiner Heiligen Schrift das legitimieren? Mitnichten! Denn was da heute von den verfeindeten Parteien ausgeführt wird, ist strategische Kriegsführung, um an die Macht zu gelangen. Das Prinzip der Vergeltung wird dafür nur zum Anlass genommen. Schliesslich steht hier nicht ein Zahn für den verlorenen Zahn, sondern viele Zähne für den einen, nicht ein Leben für das eine Leben, sondern gleich Tausende. Eine Rechtfertigung der Vergeltungsspirale, wie sie im Nahen Osten gerne mit dem Gesetz Gottes versucht wird, ist alles andere als angebracht. Das Alte Testament fordert eine Wiedergutmachung für die Opfer und zwar nach dem Mass des widerfahrenen Schadens, die Rache wird Gott überlassen.
Eine christliche Empfehlung
Jesus nahm dezidiert Stellung zum Vergeltungsgesetz des Moses. In Matthäus Kapitel 5, Vers 39 lesen wir: «Ich aber sage: Wehrt euch nicht, wenn euch jemand Böses tut! Wer euch auf die rechte Wange schlägt, dem haltet auch die andere hin.» Paulus schliesst sich wie oben zitiert Jesus an und verweist darauf, dass es hier nicht darum geht, die böse Tat zu übersehen, sondern sie Gott zu überlassen. Rache und Vergeltung sind Gottes Sache. Menschen, die Jesus folgen, sollten sich nicht kraft Vergeltung falsche Sicherheiten aufbauen, sondern nach Frieden streben. Das schliesst Wiedergutmachung oder gar Bestrafung nicht aus, nimmt aber jeder Eskalation der Gewalt ihre so gefährliche Spitze.
Der Einbezug Gottes in die Lösung der Spannung ist hier, meines Erachtens, das entscheidende Moment. In der Tat führt der Ausschluss Gottes aus unserem Leben unweigerlich zur Eskalation der Gewalt. Jakobus schreibt in seinem Brief: «Was verursacht die Kriege und Streitigkeiten unter euch? Sind es nicht die vielen Begierden, die in euch kämpfen? Ihr begehrt und habt nichts; ihr schmiedet Pläne und tötet und bekommt nichts. Ihr seid neidisch auf das, was andere haben, und könnt es nicht bekommen; also kämpft und streitet ihr, um es ihnen wegzunehmen. Doch euch fehlt das, was ihr so gerne wollt, weil ihr Gott nicht darum bittet. Und selbst wenn ihr darum bittet, bekommt ihr es nicht, weil ihr aus falschen Gründen bittet und nur euer Vergnügen sucht.» (Jakobus Kapitel 4, Verse 1–3)
1. Kriege als Folge von Egoismus
Kriege, konstatiert Jakobus, sind das Ergebnis menschlicher Egoismen. Hier stellt der eine sein persönliches Interesse, seine persönlichen Ambitionen und Gewinngelüste über das Wohl und sogar das Leben der anderen. Man will die Welt nach eigenen Vorstellungen umgestalten – so wie die Amerikaner jahrzehntelang in ihrer Aussen- und Sicherheitspolitik. Erst neulich konstatierten führende Intellektuelle der USA wie die Professoren John Mearsheimer und Jeffrey Sachs in einer viel beachteten Podiumsdiskussion, dass die Politik ihres Heimatlandes grundsätzlich von der Vision getrieben ist, die Welt nach amerikanischem Vorbild zu gestalten. Und wenn nicht anderes möglich, dann eben mit direkter oder indirekter militärischer Gewalt. Und Putin und sein Regime in Moskau ist da nicht viel anders. Oder die Machtambitionen der Chinesen, um nur einige wenige zu nennen. Kriege sind immer Ausdruck eines kranken Machtstrebens.
2. Kriegstreiber vertrauen auf eigene Möglichkeiten
Aber unser Bibeltext geht noch einen Schritt weiter. Er zeigt die Sinnlosigkeit des Krieges und des Streits auf. Kriege bringen nichts ausser Leid, Zerstörung und Verzweiflung. Und warum? Die Antwort der Heiligen Schrift: «weil ihr nicht darum bittet». Gemeint ist Gott, an den die Bitte gerichtet werden sollte. Menschen wenden sich nicht an Gott, sondern an die eigenen Durchsetzungsmöglichkeiten. Sie nehmen ihr Schicksal in die eigene Hand.
Noch mehr, sie lehnen jegliche Beteiligung Gottes an der Gestaltung ihres Lebens ab. Egozentrik ist also gottlos und eine gottlose Gesellschaft ist schnell dabei, in Schieflagen zu geraten. Ist es doch Gott selbst, der die Welt in ihrem Innersten zusammenhält. Gottlosigkeit mündet immer in einen verkehrten Sinn: Menschen, die ohne seine Autorität tun, was ihnen beliebt und sich als Resultat inmitten selbst gemachter Katastrophen wiederfinden (siehe Römer Kapitel 1, Vers 18ff).
3. Krieg ist alternativlos, weil die Kirche kraftlos ist
Und drittens, der Text konstatiert, dass sie, auch wenn sie Gott bitten, es nur zu ihrer eigenen Befriedigung tun, «damit ihr’s für eure Gelüste vergeuden könnt». Auch hier regiert purer Egoismus. Religion und Glaube zur Selbstbefriedigung befriedet aber die Welt nicht, sondern lässt sie umso mehr taumeln.
Hier liegt eine der möglichen Ursachen, warum die Menschen in der Welt immer weniger mit der Kirche und ihrem Glauben anfangen können. Zu gering ist der Abstand zwischen den eigenen egoistischen Empfindungen und denen der Frommen in der Kirche. Ein Licht, das nach innen leuchtet, erleuchtet das Dunkel der Welt nicht, und das Salz, das seine Kraft verloren hat, so sagt es Jesus, ist zu nichts mehr gut.
Hoffnung für eine taumelnde Welt
Die Welt, in der wir heute leben, taumelt. Siehe dazu eine exzellente Analyse von: Paul M. Zulehner: Hoffnung für eine taumelnde Welt: Eine Pastoraltheologie für Europa. (Ostfildern: Mathias Grünewald Verlag 2024). Gibt es da noch Hoffnung? Ja, antwortet Apostel Paulus – «Jesus Christus ist unsere Hoffnung». Er hat die Welt mit Gott versöhnt. Durch ihn kann sie alle Kräfte, die sie zersetzen, überwinden. Und wie das geht, zeigt Jesus an der Gemeinde seiner Nachfolger. Prof. Paul Zulehner spricht hier von der Jesusbewegung, die zurück zu ihrem eigentlichen Wesen und Auftrag findet. (Zulehner: Hoffnung für die taumelnde Welt, 75ff.) Damit sind Christen gemeint, die ihr altes, selbstsüchtiges Wesen abgelegt haben und in Christus eine «neue Kreatur» geworden sind.
«Ekklesia», so nennt Jesus seine Gemeinde, seine aus der Welt herausgerufene Gemeinde, die für die Welt Verantwortung übernehmen soll. Zum Wesen der Ekklesia siehe unter anderem Johannes Reimer: Die Welt umarmen. Zur Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus. Transformationsstudien Bd. 1. (Marburg: Francke Verlag 2013), 33-106. Sie sind das Salz der Erde und das Licht der Welt. Und sie sind zu allen Völkern der Erde gesandt, um ihre Kultur und Lebensraum im Sinne des Reiches Gottes zu transformieren und so zu Jüngern zu machen. Ihnen hat Gott das Amt der Versöhnung gegeben, damit sie die Menschen in der Welt aufrufen sich mit Gott, mit sich selbst, mit den anderen, ja sogar mit der ganzen Schöpfung zu versöhnen. In dieser Gemeinschaft Jesu ist Versöhnung zu Hause. Siehe mehr in Johannes Reimer: Wo Versöhnung zu Hause ist: Gemeinde als Versöhnungszentrum. (Dillenburg: Werdewelt Verlag 2020). In ihr lebt Hoffnung – Hoffnung für die Welt.
Ich würde gerne diese Worte nicht nur an die christliche Gemeinde richten, sondern auch an die verfeindeten Parteien dieser Welt. Auch und vor allem im Nahen Osten. Es gibt eine Hoffnung auf Frieden. Aber diese liegt nicht in einer Strategie der Vergeltung, sondern in der Rückkehr zum Tisch der Verhandlung. Wir Christen, die wir den Gott des Friedens kennen und als seine Botschafter des Friedens in der Welt unterwegs sind, sollten das mit allem Nachdruck an die Regierenden in Spannungsgebieten weitergeben. Und zwar als ein Wort Gottes, der letztlich die eigentliche Macht in der Welt besitzt.
Hoffnung, denn Gott regiert!
Am Abend des 9. Dezember 1968, dem Vorabend seines Todes, telefonierte der Schweizer Theologe Karl Barth (1886-1968) mit seinem Freund Eduard Thurneysen (1888-1974). Dabei kamen beide auf die damalige Weltlage zu sprechen. Folgendes soll Barth dabei gesagt haben: «Ja, die Welt ist dunkel. Aber nur ja die Ohren nicht hängenlassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in den dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! – Es wird regiert!» Karl Kupisch: Karl Barth in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (Stuttgart: Steinkopf, 1977), 135.
Barths Worte zeigen uns deutlich die Richtung. In einer Welt voller Konflikte ist immer noch Gott, der das letzte Wort spricht. Wir Christen tun gut daran uns selbst und die Welt daran zu erinnern. Nein, das ist nicht naiv. Wer nach mehr Bomben und Raketen schreit, der glaubt, aus eigener Anstrengung Gerechtigkeit in der Welt herstellen zu können, hat Gott aus seinen Überlegungen ausgeschlossen und kämpft letztlich auf verlorenen Posten.
Dieser Weg des Krieges ist seit Menschengedenken mit Leichen Unschuldiger gepflastert. Und Frieden bringt er nicht. Vielmehr werden hier bittere Wurzeln von Hass, der Generationen prägt, gelegt. So ist dann schon bald der nächste Gewaltausbruch sicher. Nirgendwo können wir diese Gesetzmässigkeit besser beobachten als im Nahen Osten. Die Wahl besteht zwischen Friedensverhandlungen und einem Leid – mit oder ohne Krieg – ohne Ende. Und die Entscheidung liegt wie immer bei uns Menschen.
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Datum: 03.02.2025
Autor:
Johannes Reimer
Quelle:
Magazin Christsein Heute 01/2025, SCM Bundes-Verlag