Sieben Worte vom Kreuz

«Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»

Am Kreuz schreite Jesus: «Mein Gott, mein Gott. Warum hast du mich verlassen?»»
Am Kreuz schwieg Jesus, stundenlang... Und dann schrie er zu Gott. Miriam Küllmer­ Vogt schreibt von der Einladung, mit Gott im Gespräch zu bleiben. Die Serie «Sieben Worte am Kreuz» beleuchtet die wenigen Sätze, die Jesus am Kreuz sagte.

Sieben Sätze sind uns in der Bibel überliefert, die Jesus gesagt haben soll, als er gekreuzigt wurde. In den vier Evangelien, also den Berichten über Leben, Leiden und Sterben des Jesus von Nazareth, sind nicht immer alle sieben Sätze aufgeführt. Mich be­rührt, dass im Bericht des Evangelisten Markus nur ein einziger Satz von Jesus überliefert wird, als er gekreuzigt wurde.

Tatsächlich spricht Jesus dort kein Wort, während er beschuldigt, verurteilt, gefoltert, beschimpft und schliesslich gekreuzigt wird. Das letzte Mal, dass Jesus zuvor etwas sagt, ge­schieht während des Verhörs durch den römischen Statthalter Pilatus. Der fragt Jesus: «Bist du der König der Juden?» Jesus antwortet: «Du sagst es.» Für mich klingt das wie eine Art nüchterne Identitätsabfrage. Wie das Vorlegen des Personalausweises, um sicherzugehen, dass der Richtige hier vor Gericht steht. Und dann folgt die Anklage. Jesus schweigt. Pilatus fragt ihn: «Hast du denn gar nichts dazu zu sagen? Hör doch, was sie dir alles vor­werfen!» Jesus schweigt. Er schweigt, während er beschuldigt wird und seine Ankläger das Volk gegen ihn aufhetzen. Er schweigt, als er verurteilt wird, verspottet, gefoltert und aus der Stadt hinausgeführt. Er schweigt, als man ihm seine Kleider vom Leib reisst. Er schweigt, als man ihm einen Betäubungstrank anbie­tet, und lehnt ihn ab. Er schweigt, als er gekreuzigt wird. Und als man ihn selbst dann noch verhöhnt, schweigt Jesus. Stundenlang.

Am Mittag, so der Bericht des Mar­kusevangeliums, breitet sich Fins­ternis über das ganze Land aus. Drei Stunden lang bleibt es dunkel.

Ein Schrei zu Gott

Dann erhebt Jesus die Stimme. Er flüs­tert nicht. Er weint nicht. Sondern er schreit laut: «Eloi, Eloi, lema sabach­ tani?». Das sind aramäische Worte. Einige von denen, die dabeistanden und zusahen, wie Jesus starb, kannten diese Sprache nicht. Sie sagten: «Habt ihr gehört? Er ruft nach dem Prophe­ten Elia!» Aber Jesus hat nicht nach Elia gerufen. Die Worte, die er schreit, stammen aus einem alten Gebet seines Volkes. Es ist ein Lied, voller Verzweif­lung und Todesnot, das mit den Worten beginnt: «Eloi, Eloi, lema sabachtani?» Das heisst übersetzt: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Dann schreit Jesus noch einmal laut auf – und stirbt.

Mir gehen diese letzten Worte Jesu nach, und ich nehme meine Bibel und lese im Alten Testament den Liedtext, dessen Anfang Jesus geschrien hat: Psalm Kapiel 22. Jesus als gläubiger Jude kannte das Lied sicherlich auswendig. Und vielleicht wollte Jesus mit seinen letzten Worten Gott den ganzen Psalm ans Herz schreien: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Fern ist meine Rettung, ungehört verhallt mein Hilfeschrei. 'Mein Gott', rufe ich am Tag, doch Antwort gibst du mir nicht. Und ich rufe in der Nacht, doch Ruhe finde ich nicht.» Dann spricht das Lied weiter, von Vertrauen: Unsere Vorfahren haben auf dich, Gott, vertraut, und du hast sie gerettet! Sie haben sich auf dich verlassen und wurden nicht enttäuscht!

Und dann wieder die Klage des Betenden: «Ich aber bin gar kein Mensch mehr ... ich bin nur noch ein Wrack, ein Ge­spött für alle, die mich hassen. Soll doch sein Gott ihm helfen ... so reden sie... Mein Lebensmut ist dahingeschmolzen, trocken ist meine Kehle, die Zunge klebt mir am Gaumen. So legst du mich in den Staub zu den Toten! Bleib mir nicht fern! Du bist meine Stärke, hilf mir schnell! Bewahre mich davor zu sterben!»

Endlich

So viel Verzweiflung. So viel Not. Und dann kommt plötzlich – mit­ten im Text des Liedes und völlig un­vermittelt – der Satz: Mein Gebet hast du erhört. Eine kurze Feststellung. Ein Aufatmen. Endlich.

Was dann folgt, ist ein wortreicher Lobgesang auf Gottes Handeln. Es folgen Versprechungen des dankbaren, aus der Not geretteten Menschen, Gutes zu tun. Es folgt die Aufforderung: Bekommt neuen Lebensmut! Und zwar für immer! Das wiedergewonnene Leben fühlt sich so leicht und wunderbar an, dass der Betende geradezu über­fliesst vor Lob auf die Stärke Gottes, der ihn gerettet hat. Man wird, so ist er sich sicher, noch in den folgenden Generationen über diese wunderbare Rettung sprechen.

Ja, so hätte Jesus wohl noch weiter den Liedtext zitieren können. Aber er schaffte gerade noch so den ersten Vers des Liedes. Dann noch ein letzter Aufschrei – und er stirbt. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Gespräch mit Gott

Liebst du mich nicht, Gott? Willst du mir vielleicht gar nicht helfen? Oder kannst du mir nicht helfen, weil dir dazu die Macht fehlt? Oder gibt es dich einfach gar nicht? Das sind die Fragen, die mit­schwingen, wenn Menschen heute eine Antwort auf das Warum suchen. Warum geschieht mir, geschieht uns, geschieht anderen auf dieser Welt ein solches Leid? Diese Art zu fragen, führt mich in eine Sackgasse.

Um über dieser Frage nicht mei­nen Glauben zu verlieren, will ich mich daran orientieren, wie diese Frage gestellt wird. Nämlich nicht als ein Sprechen über Gott: Warum lässt Gott das zu? Sondern als ein Sprechen mit Gott. Dieser verzweifelt betende Mensch hält unbedingt an der Bezie­hung zu Gott fest. Spricht Gott als sein Gegenüber an. Nicht als kosmische, aber letztlich gleichgültige und gefühllose Kraft. Sondern als Gegenüber. Ja, es ist ein Gott, der scheinbar nicht da ist. Weggegangen. Oder verborgen. Schweigend. Tatenlos. Aber es ist ein Gegenüber.

Die letzten Worte, die Jesus spricht, bevor er stirbt, sind keine Feststel­lung, keine Resignation und keine Ab­sage an den Glauben. Sondern sie sind ein Gebet, ein Flehen, ein Festhalten an diesem liebenden Gegenüber, das er Gott nennt. Jesus spricht laut dem Bericht des Markusevangeliums auf seinem Weg ans Kreuz mit keinem Menschen mehr ein einziges Wort. Seine ganze Aufmerksamkeit, seine ganze Hin­wendung gilt einzig und allein Gott. Und als er stirbt, stirbt er auf Gott hin ausgerichtet. Er stirbt in Gott hinein.

Wenn keine Rettung kommt

Die Erfahrung von Leiden und Ster­ben gehört zu unserer menschlichen Wirklichkeit. Das will niemand. Leben kann so schön sein: erfüllt mit Freude und Lachen, mit wunderbaren Begegnungen, mit Glücksmomenten und schönen Plänen, mit einem Zuhause und mit Liebe. Wundervolles, reiches, geliebtes Leben!

Und dann, am Ende, so ein Ab­sturz. So eine Hilflosigkeit. So ein Lei­den. So ein Sterben. Angesichts des lichtdurchfluteten Anfangs wird die Finsternis der Abwesenheit Gottes am Ende noch schmerzlicher empfunden. Ich wünsche mir und allen Men­schen von ganzem Herzen, dass sie Rettung erfahren. Rettung aus Not. Dass ihnen geholfen wird. Dass sie wieder froh und lebendig sein können. Aber ich weiss, dass trotz aller Wünsche und Gebete Rettung ausblei­ben kann. Dass Leben zu Ende geht. Dass Beziehungen zerbrechen. Dass Kriege geführt werden und Hunger erlitten wird. Dass Katastrophen geschehen und Dinge nicht gut werden. So sehr wir es uns auch wünschen. So sehr wir auch versuchen, durch unser Reden und Tun noch etwas zu erreichen.

Es kann zu dem Moment kommen, an dem wir wissen: Es gibt nichts mehr zu sagen und zu tun. Und dann sind da diese letzten Worte Jesu: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mit Jesus dürfen wir in einem solchen Moment unsere ganze Aufmerksamkeit auf Gott richten. Uns mit ganzem Herzen, ganzer Seele und aller Kraft, die uns noch bleibt, zu Gott hinwenden. Und uns dann selbst schreiend und betend in Gott hinein loslassen. Ob neues Leben möglich ist, das bleibt Gott überlassen.

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Datum: 23.03.2024
Autor: Miriam Küllmer-Vogt
Quelle: Magazin Aufatmen 1/2024, SCM Bundes-Verlag

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