Gott in der Muckibude
Die Nordbahntrasse Wuppertal: Ein 22 Kilometer langer, breit ausgebauter Radweg auf einer ehemaligen Eisenbahnstrecke zwischen den Dächern der Stadt, in der 100'000 Menschen leben. Das vielbefahrene Faszinosum ist ein Relikt aus der Zeit, als der Grossraum Wuppertal zu den stärksten Industrie- und Wirtschaftsmetropolregionen Europas zählte. Bereits im Jahre 1875 leisteten in der Wuppertaler Textilindustrie 424 Dampfmaschinen 3'973 Pferdestärken. Der gebürtige Wuppertaler Friedrich Engels und sein Freund Karl Marx versuchten von hier aus, eine Antwort auf die Soziale Frage zu finden. 150 Jahre später sind die Dampfloks, Textilmaschinen und Pferde verschwunden. Geblieben sind die Probleme und alte Fabrikgebäude.
Mutig und stark
In einem von diesen sitze ich nun, neben dem Radweg inmitten von Hanteln, Kraftmaschinen und Gewichten. Aussen bröckelnde Ziegel, innen unter alten Antriebsrädern und einem Kran ein hippes Fitnessstudio. Mir gegenüber: Marcus Schneider, der «breiteste Pastor Deutschlands». Dunkler Vollbart. Schmale, verschmitzt sprühende Augen. Ein wacher, zugewandter Geist. Unter dem weissen T-Shirt verbirgt sich ein tätowierter Oberköper. Auf dem rechten Oberarm prangt ein Totenkopf, in den ein Kruzifix gerammt ist. Die Wand hinter ihm ziert der Bibelvers «Sei mutig und stark». Im Sessel seiner Muckibude wirkt der grosse Influencer kleiner als im Internet. Wir stossen mit einer Cola an. Marcus kommt ins Erzählen. Fromm sozialisiert, suchte der Teenager nach tragfähigen Antworten fürs Leben. Er findet Jesus, leistet nach dem Abitur seinen Zivildienst in einer christlichen Drogenreha-Einrichtung. Dort futtert er sich im ersten Jahr sechs Kilogramm mehr auf die Rippen. Zu Besuch bei seiner Freundin erkennt diese ihn fast nicht wieder. Die Zivis besorgen sich Gewichte, pushen sich gegenseitig. Marcus schweisst sich eine Hantelbank. Zur Jesusliebe gesellt sich die Leidenschaft fürs «Pumpen», auch mal 170 kg.
Nach dem Studium der Theologie verschlägt es ihn in die Credo Kirche nach Wuppertal. Die Stadtteile Oberbarmen und Langerfeld gelten als ein schwieriger Sozialraum. Hier wohnen Menschen aus 150 Nationen eng beieinander. Der Pastor sieht die Not, träumt von einem Fitnessstudio für Jugendliche, denn «Sport verbindet, da kommen Jugendliche nicht auf dumme Ideen». Sieben Jahre baut er mit Verbündeten die industrielle Bruchbude aus, sucht Sponsoren. Um sich zu finanzieren, jobbt er als Dachdecker. Im Sommer 2020 feiern sie die Einweihung von «Mutig und Stark». Ein halbes Jahr nach dem Start bremst die zweite Welle des Coronavirus die hoffnungsvolle Gründung vorerst brutal aus. Die Stahltür quietscht. Marcus lächelt, steht auf, begrüsst die fünf Jungs, die schüchtern eintreten. «Ihr wollt heute mal reinschnuppern? Habt ihr Schuhe dabei?» «Ja.» «Alles klar.» «Boxen?» «Na klar, am Ende, wenn ihr noch Lust und Kraft habt. Erst werden jedoch die Muskeln aufgewärmt …» Ein Bufdi übernimmt die Truppe. Niko (13), ein Schüler, gesellt sich zu ihnen, macht ihnen Sit-ups und Liegestützen vor.
Wo Hanteln predigen
Wir stehen an einer Kraftmaschine. «Pumpen ist cool. Das gehört zu mir. Aber noch wichtiger ist mir, was dahinter liegt.» Marcus will jungen Menschen vermitteln, dass dicke Bizepse super sind, aber nicht das, was ihren Wert ausmacht. Der breiteste Pastor ist einer von ihnen. Aufmerksam, zugewandt, authentisch und integer. Er gibt Hilfestellung, montiert die Gewichte, klatscht die Jungs in der Basketballhalle nebenan ab. Stolz präsentiert er mir die frisch eingerichteten Umkleideräume. Den Räumen haftet nichts von in die Jahre gekommenen Schulräumen an. Mit Strassenschuhen läuft hier keiner rum. Schneider ist überzeugt: Für die Gute Nachricht ist nur das Beste gut genug. Hier bringen sie Qualität und Glauben zusammen. «Es bringt doch nichts, wenn ich die beste Botschaft der Welt habe, aber keiner hört zu. In der Bibel heisst es, dass du jemandem erst mal Klamotten besorgen musst – oder eine Hantel», erklärt er lachend und schiebt nach: «Wenn du mit einem Menschen gemeinsam schwitzt, entsteht Beziehung, dann kannst du auch mit ihm über andere Dinge reden.»
So versteht er sein Fitnessstudio: Ein Ort, wo Menschen mit dem Übersinnlichen in Berührung kommen können. «Mutig & Stark» ist eine Brücke – aber nicht nur, es ist auch Sport. «Cool, dass du da bist, Ali!» Die Augen des Jungen leuchten. «Ich will authentisch sein», sagt Marcus. «Klar gibt es auch den Proleten in mir», erklärt er lachend. «Ich weiss ihn aber auch zu reflektieren, meinen Selbstwert nicht aus Muskeln und medialer Aufmerksamkeit zu ziehen. Mir geht es hier im Fitnessstudio wirklich um den einzelnen Menschen. Ich will mit Menschen chillen, ihnen zuhören, sie aufbauen. Wenn das Gespräch auf Gott kommt, ist das gut, wenn nicht, ist es auch ok.»
Während Marcus für eine kleine Challenge mit Manu eine Maschine einrichtet, schnuppere ich in den Boxkurs. Amir (13) findet es toll hier. «Ich bin Moslem, kein Christ, aber ich fühle mich absolut wohl hier. Hier werde ich respektvoll behandelt, fühle mich herzlich willkommen. Meine Eltern finden es gut, dass ich hier hergehe und keinen Scheiss mache», keucht er und schlägt weiter gegen den Boxsack. Inzwischen duellieren sich Marcus und Manu. Letzterer ist Bankangestellter. In einem YouTube-Video stiess er auf den «breitesten Pastor» und stellte überraschend fest: Der lebt ja in meiner Stadt! Jetzt trainiert er hier nach Feierabend. 80 kg gilt es mit einer Hand zu stemmen. Manu legt 15 Stösse vor. Auf 21 schafft es Marcus. Manu wagt einen zweiten Versuch. «Ratsch!» Manu platzt die Hose. Gelächter. Dann darf ich mal. Ich mühe mich mit zwei Händen ab. Lachen.
Ort der Begegnung und des Respekts
Marcus holt sich einen Cappuccino. «Nimmst du auch einen?» Ins Klappern des Löffels frage ich: «Dem Christsein haftet ja der latente Vorwurf an, es sei etwas für Schwache. Du wirkst nicht schwach. Warum glaubst du trotzdem?» Der Pastor lacht. «Ich bin manchmal sehr schwach. Meine Schwachheit anzuerkennen, gerade darin liegt auch Stärke für uns Männer», sagt's und wendet sich freundlich den zwei Jungs zu, die verspätet zum Boxkurs eintreffen. «Ey, super, dass ihr da seid!»
Wuppertal gehört zu den zehn ärmsten Städten Deutschlands. 65 Prozent der Mitglieder im Fitnessstudio haben Migrationshintergrund. Zehn Euro Mitgliedsbeitrag zahlen die Jugendlichen im Monat, der Rest wird über Patenschaften und das Jugendamt beigesteuert. «Der breiteste Pastor» setzt auf Sport. «Dadurch schaffen wir Begegnung und Beziehung. Diese tragen den Keim der Veränderung des Stadtteils in sich.» Sein Gesicht wird ernst. Zögerlich und nachdenklich fährt er fort: «Die meisten Kids kommen aus einem sozial schwachen Umfeld. Es gibt kaum familiären Support, die Väter sind wenig präsent, den Kindern mangelt es an Respekt, sie tun sich schwer miteinander.»
Wir stehen oben auf der Stahltreppe. Von unten steigt Stimmengewirr, metallisches Klirren, Gangster-Mucke nach oben. Ich frage Schneider: Wie gründet man so einen Hoffnungsort? Er zuckt mit den Schultern, lächelt. «Es gibt kein Konzept, ‚So wirst du breitester Pastor Deutschlands‘. Gott hat hier Türen geöffnet. Ich hatte den Mut, durch diese Türen zu gehen. Ich bin der Überzeugung, dass Jesus für jeden Menschen die Hoffnung ist. Ich bin jedoch nicht hier, um über Menschen zu urteilen, was sie sagen, glauben und denken, sondern einer von ihnen zu sein.» Und das kommt an. Immer wieder bekommt er zu hören: Ein tätowierter Pastor kann nicht so übel sein. Marcus ist er selbst. Geerdet, sprachfähig im Milieu.
Mit Jesus die Welt verbessern
Wieder quietscht die Stahltür. «Oh, jetzt beginnt gleich der Fitnesskurs für die Älteren, den verantworte ich.» Ich stelle noch eine Frage. «Welchen Fitnesstipp gibst du Männern ab 40 mit?» «Einfach machen! Sport machen tut der Männerseele gut. Männer machen sich oft zu viele Gedanken und Pläne und dann bleiben sie in der Planung stecken. Fang einfach an, geh einmal die Woche spazieren oder ins Studio», sagt's und wendet sich den Kids zu. Auf dem Weg zur Theke wendet er sich dann nochmals herum und ruft lachend: «Schreib ihnen noch: So wie wir Männer sind, sind wir geliebt. Auch als schlechte Verlierer und Schwache.»
«Dies ist eine verbesserliche Welt. Weil Gott diese Welt liebt, dürfen wir sie nicht lassen, wie sie ist», mahnte der in Wuppertal geborene Bundespräsident Johannes Rau. Ich trete vor die Stahltür, stehe auf der Nordbahntrasse. Die untergehende Abendsonne blendet mich. Und ich denke: Rau wäre dankbar für «Mutig & Stark», den Weltverbesserungsort im Zeichen von Muskeln, Schweiss, Tattoos und Jesusliebe in seinem Heimatort.
Dieser Artikel erschien im Magazin Movo 04/23 vom SCM Bundes-Verlag.
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Datum: 25.01.2024
Autor:
Rüdiger Jope
Quelle:
Magazin Movo 04/23, SCM Bundes-Verlag