Der Trauer gestellt
«Meine Familie wandert gern. In meiner Kindheit verbrachten wir mehrmals Ferien in der Schweiz», erzählt Christine und fügt an: «Die Nähe zu den Bergen hat mir schon damals sehr gefallen.» Ihren Ehemann lernt sie während eines Schweden-Urlaubs kennen. Nach der Heirat 2015 ziehen die beiden Deutschen in die Schweiz. Tim tritt eine Stelle als Pastor in der Freien Evangelischen Gemeinde Henggart an, Christine arbeitet als Primarlehrerin und engagiert sich freiwillig in der Gemeinde. Im August 2017 helfen beide mit, das Heavenstage Festival vorzubereiten. Verschiedene christliche Musikbands werden aufreten, Sport und gemütliches Beisammensein nicht fehlen.
Der Openair-Event findet in der letzten Woche der Sommerferien statt. Kurz vor Beginn hilft Tim mit, ein Volleyballfeld einzurichten, während Christine zu Hause den Unterricht für den nahenden Schulstart vorbereitet. Auf einmal klingelt bei ihr das Telefon: «Christine, du musst kommen – Tim ist verunfallt», teilt ihr eine Freundin mit. «Ist er tot?», will die junge Frau sofort wissen.
Die Zeit steht still
Christine wird abgeholt und am Ort des Geschehens von einem Rettungssanitäter betreut. Er erklärt ihr behutsam, dass ihr Mann von einem Teleskopstapler gestürzt sei und sich dabei tödlich verletzt habe. Christine ist erschüttert. Später darf sie zu Tim, um sich von ihm zu verabschieden. Er liegt zugedeckt unter einem Tuch, einen Arm und die Hand darf sie berühren. «Arm und Hand waren noch warm, als wäre er noch am Leben», erinnert sich Christine, die damals 27 Jahre alt war. Sie solle ihren Mann so in Erinnerung behalten, wie sie ihn kenne, raten die Rettungskräfte.
Gut begleitet
«Die nächsten Tage habe ich bei zwei befreundeten Paaren verbracht. Eines hatte gerade Familienzuwachs erhalten», erzählt Christine. Das Neugeborene spiegelt ihre Situation. «Wir waren beide nicht fähig, für uns zu sorgen und in den grundlegendsten Dingen auf Hilfe angewiesen», erklärt Christine. Es tut ihr gut, die Mutter bei der Pflege des kleinen Mädchens zu unterstützen, dieses junge Leben hautnah zu spüren. Auch Familie, Freunde und Menschen aus der Kirche bieten Hilfe an, lassen Christine nicht allein. Während des Gottesdienstes am Heavenstage Festival ist sie umgeben von Freunden und erfährt so den Schutz, den ihre Seele jetzt braucht. Dennoch: Den Weg durch die Trauer muss sie selbst gehen.
Gefühle ausleben
28 Jahre jung und Witwe. Christine stellt fest: «Für verwitwete Mütter und Väter gibt es Selbsthilfegruppen – für Ehefrauen ohne Kinder nicht.» Gut ein Jahr wird sie von einem Notfallseelsorger feinfühlig und sorgsam begleitet. Als Wut in ihr aufsteigt, dass Gott Tim nicht beschützt hat, ermutigt der Seelsorger sie dazu, diesen Gefühlen Luft zu verschaffen, versichert ihr: «Auch wenn du ihn anschreist – Gott hält das aus!» Christine nimmt ihren Helfer beim Wort. Einmal zerreisst sie eine Zeitung, ein anderes Mal schlägt sie mit einem Kissen aufs Sofa ein, bis sie nicht mehr kann. Tapfer stellt sich Christine der Trauer, weicht nicht aus. Das Buch von Chris Paul «Ich lebe mit meiner Trauer» hilft ihr in diesem Prozess sehr. Die Autorin beschreibt Trauer nicht als Phasen, die nacheinander ablaufen, sondern als Kaleidoskop: «Immer wieder stellt sich etwas in den Mittelpunkt, dabei schwingt alles andere mit.» So erlebt Christine ihren Weg durch die Trauer. Sie kann keine Phasen abhaken, sondern durchlebt einzelne mehrfach.
Tiefe und Nähe
Bewusst hat die junge Witwe einige Wochen nach dem Unfall wieder Schulunterricht erteilt und setzt sich auch Situationen aus, die sie triggern könnten. Als sich ein neuer Pastor mit Frau und Kind als Nachfolger von Tim vorstellt, denkt Christine: «So könnte es jetzt auch bei uns aussehen, wir als Familie …» Gewisse Liedtexte kann sie im Gottesdienst nicht mehr mitsingen, verlässt den Raum, wenn es ihr zu viel wird, hält die Tränen nicht zurück. Am Todestag besucht sie in Begleitung die Unfallstelle. Christine lernt, gut für sich zu sorgen und erlebt Gott am Tiefpunkt ihres Lebens so nah wie nie zuvor. «Es gab nur Gott und mich.» Diese Nähe und innige Freundschaft tun ihr unendlich gut – und ihre Seele kann heilen. «Das Schwere verblasst immer mehr und Schönes schafft sich Raum», freut sie sich.
War's das nun?
Als Christine 29 Jahre alt ist, spricht sie mit Gott über ihren Wunsch, wieder Ehefrau und auch Mutter zu werden, fragt ihn: «Muss ich jetzt allein bleiben?» Gott lässt sie erkennen, an erster Stelle stehe seine Liebe zu ihr. Christine sagt: «Ich habe das Thema Ehe dann bei ihm deponiert und darauf vertraut, dass er mir zur rechten Zeit den richtigen Mann über den Weg schicken wird.» Schliesslich sagt sie sich: «Wenn ich zuhause bleibe, geschieht nichts» – und meldet sich für Single-Wanderferien an. Auf den ersten Blick ist kein Mann dabei, der sie interessiert. Doch dann begegnet sie Markus, kann sich gut mit ihm unterhalten.
Er ist Uhrmacher und Lehrlingsausbildner, stammt aus dem Klettgau. Auch er kennt Trauer aus eigener Erfahrung. Sein Zwillingsbruder starb als Jugendlicher an Krebs. Beide haben die Themen Loslassen und Neuorientierung durchbuchstabiert und dabei Gottes Nähe erlebt.
Neues Glück
Als Christine und Markus im Zug die Halbtax-Karte zücken, stellen sie fest: elf Jahre Altersunterschied! Sie schlucken erst einmal leer. Doch dann zählen die Werte, die sie verbinden, mehr als die Lebensjahre, und die beiden werden ein Paar. 2020 findet die Hochzeit statt, im Juli 2022 werden sie Eltern von Claire. Christine arbeitet weiterhin Teilzeit, nun als Fachlehrerin. Fragen, weshalb sie ihren ersten Mann so jung verloren hat, deponiert sie zusammen mit anderen in einer Schachtel. «Ich werde mich bei Gott erkundigen, wenn ich bei ihm bin», sagt sie schmunzelnd. Bis dahin trägt sie gern dazu bei, Gottes Liebe für Menschen erfahrbar werden zu lassen. Dankbar lebt sie im Hier und Jetzt, zusammen mit Markus und Claire.
Dieser Artikel erschien zuerst an Pfingsten 2023 in der Hope-Regiozeitung.
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Datum: 29.07.2023
Autor:
Mirjam Fisch-Köhler
Quelle:
Hope-Regiozeitungen