Von Juden lernen

Heiliges Streiten

Ein Mann und eine Frau, die sich streiten
Streiten stört die Harmonie und das christliche Leben. Wirklich? Wer in die jüdische Kultur hineinschaut, wird entdecken, dass Streiten im Gegenteil ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist – jedenfalls als heiliges Streiten.

«Da hat wohl jemand seinen Doktortitel im Lotto gewonnen …» Nicht erst seit der Coronapandemie gibt es solche Äusserungen, aber seitdem haben sie erheblich zugenommen. Der Grundgedanken dahinter ist: Es kann nur eine Seite recht haben und das unterstützt man, indem man die andere diskreditiert. Experte A betont seinen Standpunkt sehr deutlich. Expertin B vertritt eine völlig andere Meinung. Beide haben ihre Anhänger, die irritiert sind, wie man nur so borniert sein kann wie die Gegenseite. Und bei der Auseinandersetzung wird weder mit sachlichen Argumenten noch mit unsachlichen Ergänzungen wie der obigen gespart. Dabei bewerten die meisten Menschen in unserem Kulturkreis Streiten um die Wahrheit oder sinnvolle nächste Schritte eher als negativ. Eine Auseinandersetzung darüber wird schnell als «Glaubenskrieg» bezeichnet. 

Beni Frenkel meint in der «Jüdischen Allgemeinen», dass ein Blick auf den Glauben beim Streiten tatsächlich lohne, auf «unsere Religion, die den Gelehrtenstreit nicht nur kennt, sondern ausdrücklich anstrebt. Nur wird er anders formuliert: ‘Kinat Sofrim’, die Eifersucht der Gelehrten. Von jeder Art der Eifersucht soll man sich fernhalten, heisst es in jüdischen Erbauungsbüchern. Aber ‘Kinat Sofrim’ wirke sich positiv aus, vergleichbar mit dem gegenseitigen Schärfen zweier Messer: Am Ende schneiden beide besser.» Gibt es tatsächlich etwas Besonderes am Streiten, wie es in der jüdischen Welt praktiziert wird?

Vieles ist wie überall

Zunächst einmal muss man festhalten, dass Streiten keine Glaubensfrage ist und sich Anhängerinnen und Anhänger jeder Religion destruktiv und verletzend streiten können – und es auch tun. Schon König Salomo betonte deshalb in seiner Spruchsammlung: «Abzulassen vom Streit ist für den Mann eine Ehre, jeder Narr aber stürzt sich hinein.» Was in der jüdischen Kultur anders ist, ist die positive Erwartung an eine Diskussion rund um Glaubens- und Wissensfragen. Du kannst in alte religiöse Texte wie den Talmud schauen oder aktuellen jüdischen Gelehrte zuhören: Sie streiten. Sie diskutieren. Aber das ändert nichts an ihrer gegenseitigen Wertschätzung oder ihrer Identität. Zumindest ist dies das Ziel solcher Auseinandersetzungen. Der verstorbene britische Oberrabiner Dr. Jonathan Sacks sprach in diesem Zusammenhang von der «Würde der Verschiedenheit». Ihm war wichtig: «In allen Angelegenheiten, die uns als Juden betreffen, arbeiten wir unabhängig von unseren religiösen Unterschieden zusammen, und in allen Dingen, die unsere religiösen Unterschiede berühren, sind wir uns einig, dass wir uns unterscheiden, aber mit Respekt.»

Streiten ist aktives Erinnern

Ehrliches Zuhören und sachliches Auseinandersetzen ist die Basis für familiäres, kirchliches, politisches und auch gesellschaftliches Miteinander. Anna Staroselski schrieb dazu in der NZZ: «Hier können wir vom Judentum lernen. Die jüdische Tradition legt grossen Wert darauf, Erinnern als eine aktive Handlung zu verstehen.» Jeder Blick in die Vergangenheit ist subjektiv, hilft aber gleichzeitig dabei, die eigene Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten. Einseitigkeit führt hierbei nur selten zu guten Ergebnissen. Oft ist es gerade das Reiben an unterschiedlichen Einschätzungen, was zu tragfähigen Ergebnissen führt. Jesus selbst entwickelte so den Glauben auf eine typisch jüdische Art und Weise weiter, als er in der Bergpredigt immer wieder formulierte: «Ihr habt gehört …, ich aber sage euch …». Das war kein fertiges Programm, sondern eine Einladung zum Streiten.

Ringen um die Wahrheit ohne Konklusion

Im Judentum hört dieses konstruktive Ringen trotz völlig unterschiedlicher Meinungen beim Heiligen nicht aufhört. Wo viele Christen ihre Schmerzgrenze überschritten sehen und Gottes Ehre um alles in der Welt verteidigen wollen, schrieben die Juden ihren Talmud. Dieser Basiskommentar zur Tora, den fünf Büchern Mose, ist geprägt durch die Aussagen von Raba und Abbaje genauso wie von Hillel und Schammai. Diese vertraten immer gegensätzliche Meinungen und führten heftige Debatten rund um die rituelle Praxis und ethische und theologische Fragen. Heute hätten sie wohl ihre Positionen zur Kindertaufe, Homosexualität und der Frage nach Himmel und Hölle dargelegt. 

Das Spannende im Judentum beschrieb Staroselski: «Sie stehen konträr zueinander, aber immer in gegenseitigem Respekt für die Argumentation des anderen», aber «eine Conclusio bleibt aus». Es gibt kein Fazit, das die endgültige Wahrheit festhält. Die endgültige Wahrheit ist vielmehr der Ausgangspunkt, es ist die Tora, die aber nicht für sich alleinstehen kann, sondern ausgelegt werden muss. Eine christliche Debatte, die sich im Festhalten von «die Bibel sagt ganz klar» erschöpft, greift hier deutlich kürzer. Jüdische Streitkultur würde die Autorität der Bibel nie infrage stellen, aber trotzdem wertschätzend und kontrovers über ihre Auslegung streiten.

Ist ein Miteinander möglich?

Frenkel hielt am Ende seines Artikels aus der Coronazeit fest: «Streitet euch, aber benehmt euch anständig in der Öffentlichkeit.» Ergänzend fragte er, «wie das Judentum im Laufe der Jahrhunderte die gegensätzlichen Meinungen aushielt. Wie war es möglich, dass die Klammer stets breit genug war für die Dispute zwischen Aschkenasim und Sefardim, Chassidim und Mitnagdim, Charedim und Nationalreligiösen? Warum gab es im Judentum nie eine Trennung wie zwischen Katholiken und Protestanten, Schiiten und Sunniten? Die Antwort liegt in einem Aphorismus begründet, der natürlich mehr ist als nur ein Sinnspruch. ‘Se wese Diwre Elokim Chaim’: Diese und diese Meinung entsprechen beide dem göttlichen Wort. Gott verhält sich zu divergierenden Meinungen wahrscheinlich toleranter, als wir uns das vorstellen.»

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Datum: 14.04.2025
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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