Wenn Gott schweigt
«Wir lagen auf der Wiese und baumelten mit der Seele», schreibt Kurt Tucholsky in seiner Sommergeschichte «Schloss Gripsholm». Und hält dann fest: «Das ist schön, mit jemandem schweigen zu können.» Dieses vertraute Still-sein-Können ist tatsächlich etwas Besonderes und fühlt sich rundum gut an. Ganz anders sieht es aus, wenn dort Schweigen herrscht, wo man dringend auf ein Wort oder ein Lebenszeichen wartet. Dieses Mit-dem-Schweigen-leben-Müssen ist eine echte Grenzerfahrung. Genau diese Erfahrung machen die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens auch mit Gott. Manchmal scheint er sich aus der Geschichte zurückzuziehen und manchmal «nur» aus dem eigenen Leben.
Prophetenlose Zeit
Theologen kennen eine spezielle «Zeit des Schweigens Gottes» und meinen damit den Zeitraum zwischen Altem und Neuem Testament. Das Alte Testament hört mit dem Buch des Propheten Maleachi auf und schliesst mit dem, was man heute einen Cliffhanger nennen würde – dem Hinweis darauf, dass es jetzt erst spannend wird und die Fortsetzung bald folgt: «Ihr werdet sehen: Noch bevor der grosse und schreckliche Tag kommt, an dem ich Gericht halte, schicke ich den Propheten Elia zu euch. Er wird Eltern und Kinder wieder miteinander versöhnen, damit ich euch und euer Land nicht völlig vernichten muss, wenn ich komme.» (Maleachi, Kapitel 3, Vers 23-24)
Und jetzt wartet das Volk Israel auf Elia. Es wartet über 400 Jahre. Erst rechnen die meisten Juden damit, dass sie die Zeit des kommenden Messias noch erleben werden, dann wird es eine Geschichte, die an die nächste, übernächste und alle weiteren Generationen weitergegeben wird. Lange danach steht Johannes der Täufer auf und predigt «im Geist und in der Kraft Elias» (Lukas, Kapitel 1, Vers 17). Und Jesus erklärt von sich selbst, dass er der erwartete Messias ist.
Das war eine lange Zeit des Schweigens zwischen Versprechen und Erfüllung. Doch wo steht, dass Gott währenddessen wirklich nicht geredet hat? In der Geschichte gab und gibt es immer wieder Zeiträume, in denen er scheinbar weniger präsent ist. Der Neutestamentler B. J. Oropeza weist jedenfalls nach, dass zahlreiche Menschen in diesen 400 Jahren Erfahrungen mit Gott machten, von ihm hörten, geisterfüllt redeten – und einige von ihnen verfassten nebenbei noch die Septuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testaments. Stillschweigen? Eher nicht.
Tatsächlich war es eine Umbruchszeit, nach der etwas Neues begann. Da fällt es vielen schwer, im Rückblick zu sehen, dass diese jüdisch-alttestamentliche Zeit einfach dazugehörte. Und dass sie auch ohne entstandene Bibelbücher aus diesen Jahren nicht unbedingt eine Schweigezeit gewesen sein muss.
Persönliches Schweigen
Manches scheinbare Schweigen ist also bei näherem Betrachten gar keines, aber was ist mit den Zeiten, wo Menschen wie du und ich sehnsüchtig auf ein Reden Gottes warten – aber nichts hören? Der Holocaustüberlebende Elie Wiesel erzählte im Jahr 2000 von dieser frustrierenden Erfahrung, dass sein eigenes Schicksal und das der anderen Jüdinnen und Juden Gott nicht zu rühren schien: «Mehr noch als das Schweigen der andern war sein Schweigen ein Geheimnis, das vielen von uns rätselhaft bleibt und uns bedrückt bis auf den heutigen Tag.» Warum hat Gott nicht geredet und gehandelt? Warum redet Gott nicht, wenn ich Antworten und Hilfe brauche? Wieso spricht er erst mit mir, um anschliessend zu verstummen?
Es gibt zwei klassische Antworten hierauf – und beide greifen zu kurz: «Gott redet, aber du hörst ihn nicht» oder noch zugespitzter: «Gott würde schon reden, wenn deine Schuld ihn nicht daran hindern würde.» Natürlich besteht die Möglichkeit, dass diese Antworten bei mir zutreffen, aber sie werden dem Eindruck nicht gerecht, den David in den Psalmen so formuliert hat: «Herr, wie lange wirst du mich noch vergessen, wie lange hältst du dich vor mir verborgen?» Der Mystiker Johannes vom Kreuz fand für diese Erfahrung den Ausdruck der «dunklen Nacht der Seele». Die bekannteste Ordensfrau der Welt, Mutter Teresa, schrieb laut «Stern» in ihren Tagebüchern: «Was mich angeht, ist das Schweigen und die Leere so gross, dass ich schaue und nicht sehe, höre und nichts verstehe.» Es gibt ein Schweigen Gottes, das mit Sätzen wie den obigen nicht zu erklären ist.
Und der Sinn dahinter?
Die Reihe an prominenten und weniger prominenten Gläubigen liesse sich beliebig fortsetzen. Irgendwann macht jeder die Erfahrung, dass Gott unendlich weit entfernt scheint. Einige gewinnen in einer Zeit danach die Überzeugung, dass sie dadurch letztlich im Glauben gewachsen sind. Andere – und das sind die, die weniger darüber reden – wissen auch hinterher nicht, wozu diese Zeit gut gewesen sein soll. Es ist kein Zufall, dass sich hauptsächlich die sogenannten Mystiker mit dem Phänomen des Schweigens auseinandersetzen.
Beim Beschäftigen mit den eigentlichen und oft verborgenen Seiten Gottes und des Glaubens bleiben zwangsläufig Fragen offen, vieles bleibt ein Geheimnis. Letztlich ist es meine eigene Entscheidung, ob ich Gottes Schweigen als Angriff gegen mich oder als sein Mitleiden und Dableiben deute. Vielleicht sogar wie Tucholsky in seiner Liebesgeschichte als: «Das ist schön, mit jemandem schweigen zu können.»
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