«Mein Gott, warum?»

Verurteilt und doch frei

In seinem Buch «Mein Gott, warum?» erzählt Heiko Bauder von seinem Umgang mit Schuld.
Heiko Bauder verwundet 1992 bei der Bundeswehr einen jungen Kameraden tödlich. Im Buch «Mein Gott, warum?» erzählt er von seinem Kampf zurück ins Leben und vom Umgang mit der Schuld.

Herr Bauder, der Unfall bei der Bundeswehr ist inzwischen über 30 Jahre her. Wie oft werden Sie noch auf den Vorfall angesprochen?
Heiko Bauder: Von meinem direkten Umfeld eigentlich gar nicht, das hat dort schon lange aufgehört. Allerdings ist es auch so, dass ich damit nicht hausieren gegangen bin. Wenn jemand mich gefragt oder mich näher kennengelernt hat, dann habe ich das schon erzählt, aber dass jetzt jemand von sich aus auf mich zugekommen ist, ist eher nicht vorgekommen.

Was war der Schlüssel, um mit diesem Erlebnis abzuschliessen?
Ich würde sagen, dass es nie ganz abgeschlossen sein wird. Es wird immer noch offene Fragen geben. Am Ende geht es um ein Menschenleben und die Frage bleibt, welchen oder ob das überhaupt einen Sinn hatte. Die Frage steht für mich noch offen. Das klingt erst mal merkwürdig, aber diese Fragen haben mich im Glauben gehalten, weil ich von Gott wissen wollte: Was soll das? Ich glaube, die Fragen nehme ich am Ende mit in den Himmel. Ich hoffe, dass es dort Antworten darauf geben wird. Ein Schlüssel in der Akutphase war auf jeden Fall Pfarrer Langer, der mich begleitet hat. Er hat diese anfängliche Verzweiflung sehr gut aufgefangen und hat mich ins Leben zurückgeholt.

Sie schreiben, dass Sie den Gerichtssaal trotz Verurteilung als freier Mensch verliessen. Was meinen Sie damit?
Ich hatte ja im Buch beschrieben, dass ich hingegen der Massgabe meines Rechtsanwalts bei dem geblieben bin, was ich in der Vernehmung gesagt hatte. Das war für mich in dem Sinne Befreiung. Ich bin zwar verurteilt worden, aber ich konnte vor mir selbst geradestehen, weil ich mir bewusst war, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Das war für mich eine innerliche Freiheit. Ich habe ein Strafmass bekommen, das ich auch so akzeptiert habe, weil ich mir bewusst war, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich konnte aber in dem Gefühl, die Wahrheit gesagt zu haben, als «freier Mann» den Gerichtssaal verlassen.

Sie schreiben in Ihrem Buch: «Wenn wir es schaffen, aus dem Warum ein Wozu zu machen, bekommt das, was wir erlebt haben, eine neue Perspektive.» Was hat das für Sie persönlich verändert?
Die Frage nach dem Warum hat mich irgendwann an den Punkt gebracht, dass ich immer nur nach hinten geschaut habe – also immer nur in die Vergangenheit. Daran kann ich nichts mehr ändern, egal, wie emotional aufgewühlt und laut ich nach dem Warum schreie. Ich bekomme darauf einfach keine Antwort, weil das Dinge sind, die waren, und ich kann sie nicht mehr beeinflussen. Irgendwann stellte ich mir die Frage: Wie kann ich mit dem, was passiert ist, in die Zukunft gehen? Dann kam mir plötzlich der Gedanke: Jetzt kann ich an der Vergangenheit nichts mehr ändern, aber ich kann die Zukunft gestalten. Wenn man dann auf die persönlichen Katastrophen zurückblickt, stellt man irgendwann auch mal fest, dass man Resilienz entwickelt hat. Das ist auch eine Stärke für mich und so dann wiederum auch für andere hilfreich.

All die Schicksalsschläge, die Sie erlebt haben, hätten laut Ihrer Aussage das Potenzial gehabt, Sie zu zerstören. Haben die Erlebnisse dazu geführt?
Nein, definitiv nicht. Sonst wäre ich heute nicht hier. Es kam nicht dazu, weil ich ganz tief drin Gott nie verlassen hatte. Ich wollte das damals nach der Bundeswehr tun, aber ich konnte es nicht. Mir war die Zunge festgenagelt. Ich konnte Gott nicht absagen. Ich hatte mich einige Jahre vor dem Unfall bei der Bundeswehr für Jesus entschieden und er hatte seinen Teil des Versprechens immer eingehalten. Sein Tod am Kreuz war für mich felsenfest versiegelt. Das hat mich getragen. Egal, in welches Loch wir als Familie gefallen sind, wir sind immer wieder in Gottes Hände gefallen – das ist jetzt keine Floskel, es war und ist tatsächlich so. In so mancher Situation fragt man sich schon: Das kann doch alles nicht wahr sein, warum? Warum trifft es immer uns? Und dann klagt man Gott auch wieder an, aber im Rückblick sieht man dort auch die Segnungen. Dann sieht man die Menschen, die plötzlich da waren und geholfen haben, wie damals der Pfarrer Langer – Leute, mit denen man gar nicht gerechnet hat. Die haben mich und uns eine Zeit lang begleitet und sind dann vielleicht auch wieder weg gewesen – wie Lichtstrahlen, die an einem vorübergehen, in denen Gott sich zeigt und sagt: Ich bin da.

Sind Sie jetzt froh darüber, das Buch geschrieben zu haben?
Ja, absolut. Ich hatte schon so viele Rückmeldungen, die unendlich positiv waren. Viele Menschen haben mir gesagt: «Das war so wichtig, dass du das Buch geschrieben hast, genau das haben wir gebraucht.» Das hat mir gezeigt, dass dieses Thema Schuld viel grösseren Raum einnimmt, aber sich auch niemand traut, wirklich darüber zu reden. Ich bin regional bei einigen Lesungen gewesen und das war wirklich phänomenal, was da zurückkam.

Hat sich die Familie Ihres damaligen Kameraden auf das Buch hin nochmal gemeldet?
Ich durfte mich nochmal mit der Familie treffen. Es ging um Persönlichkeitsrechte im Buch. Ich glaube, dass es für beide Seiten nochmal ein sehr wichtiger Punkt und kein Zufall war.

Sie haben geschildert, dass Sie lange nach dem Unfall bei der Bundeswehr nicht so richtig lachen konnten. Später haben Sie weitere Schicksalsschläge und noch eine Verurteilung aufgrund eines Autounfalls erlebt. Würden Sie sagen, dass Sie heute wirklich wieder befreit lachen können?
Ja, definitiv. Ich bin ein sehr lebensbejahender Mensch, das war ich schon immer. Ich kann mich wieder am Leben freuen und bin voller Tatendrang. Ich habe schon oft gedacht: Ich bin jetzt 53 Jahre alt, aber habe noch so viele Ideen im Kopf – ich müsste nochmal 30 Jahre alt sein.

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Datum: 22.06.2024
Autor: Tim Bergen
Quelle: Magazin MOVO 02/2024, SCM Bundes-Verlag

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