Der Umgang mit den Andersdenkenden
Wir leben in einer hoch polarisierten Zeit: Ein Freund ist da einer, der über Glaube, Politik oder Weltprobleme so denkt wie ich. Wer anders denkt – und sei es nur in Details –, der wird rasch zum Gegner, oft ganz umfassend: Denn wer hier so denkt, der muss doch auch bei anderen Fragen potentiell gefährlich denken – kann also kein Freund sein, keiner aus meinem Lager. Und wer sich zur jeweiligen Frage gar nicht festlegen mag oder gar auf beiden Seiten Gutes zu hören weiss, der gehört zur windelweichen Mitte, die nicht kapiert hat, wo heute die Glocken hängen – oder? So nehme ich es immer verstärkt wahr und leide unter dieser zugespitzten Kampf-Mentalität, denn ich verstehe Glaube oder Politik eher als Sinfonie: Immer wieder entdecke ich auch in den Argumenten der anderen Seite Gutes oder kann zumindest ihre Beweggründe wertschätzen. Oft denke ich: Wenn hier doch beide Seiten vernünftig miteinander reden und aus Position A und Kontrast B ein lebenskluges C formulieren würden! Wäre das nicht genau das, was Gott als Potential in unser Miteinander gelegt hat: ein Konzert sich ergänzender Stimmen und Lebensgefühle zu einem neuen Ganzen zu versuchen? Und gilt das nicht für eine Ehe genauso wie für die Kirche oder unsere Demokratie?
Freilich: Das würde eine Reife und Demut verlangen, die auch anderen wichtige Lebensgefühle und Einsichten unterstellt und sie verstehen will. Gerade neulich ging es mir wieder so: Es sei zu einer Mode geworden, schrieb da jemand, dass heute viele Christen vom «Geheimnis Gottes» reden würden. Als ob wir über Gott gar nichts wüssten und keine Ahnung hätten! Die Bibel sei doch voller Infos, die sollten wir doch erstmal bekannt machen statt vorschnell von einem Geheimnis zu reden. «Wow», dachte ich: «Guter Punkt, muss man hören!» Für eine zunehmend säkularisierte Gesellschaft ist es ja tatsächlich viel wichtiger, darüber zu reden, was wir durch die Bibel von Gott wissen: «Gott kennen heisst Leben» – dieses Tolstoi-Zitat klebte 1975 auf der Motorhaube meines ersten VW-Käfers. Und das gilt ja bis heute und ist eine überfällige Bring-Leistung von Christen und Kirche in unsere Welt hinein.
Und es ist dringlich
«Noch nie war diese völlig traumatisierte Welt so reif für die Botschaft des Evangeliums wie jetzt», spitzte es die englische Wissenschaftlerin Dr. Amy Orr-Ewing beim letzten Willow-Kongress in Karlsruhe zu. Bevor wir also vom Geheimnis reden, sollten Christen bekannt machen, was sie über Gott wissen. Und das ist viel – von der Schöpfung bis hin zu seiner endgültigen Liebes-Offenbarung in Tod und Auferstehung von Jesus. Lasst uns also in die Hände spucken! Wichtiger Zwischenruf und Punkt A!
Zugleich stimmt aber auch die Einsicht B: Je länger ich lebe und glaube, begreife ich, dass Gott zutiefst Geheimnis ist – und bleibt. Und das ist keine defaitistische, den Glauben beschädigende Aussage, sondern eine notwendige Erkenntnis. Denn das in Gottes Wort bezeugte Bild von ihm ist keine nahtlos logische Mathematik. Im Gegenteil: Die Bibel selbst spricht vom «nur bruchstückhaften Erkennen Gottes als Umriss und wie in einem Spiegel» – erst später werden wir ihn «von Angesicht zu Angesicht» sehen (1.Korinther Kapitel 13, Vers 12).
Umgang mit offenen Fragen
Mir hat das Erkennen der Unbegreiflichkeit Gottes geholfen, meinen Glauben nicht an den Grenzen meines Verstehens zerbrechen zu lassen. Wer länger mit Gott unterwegs ist, lebt mit Fragen, findet Gründe für Zweifel und muss damit leben lernen. Glaube ist keine Rechenaufgabe, sondern Hingabe – auch Hingabe des Wunsches, nahtlos all die Warum-Fragen des Lebens nachvollziehen zu können. Der katholische Theologe Karl Rahner hat es wunderbar ausgedrückt: «Glauben heisst, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang aushalten.» Und da wird das Reden vom «Geheimnis Gottes» für uns zu einer belastbaren Brücke, einer Hilfe auf unserem Weg.
Was mich triggert – in unserer Gesellschaft wie auch unter Christen – ist die starke Polarisierung unter uns. Ich empfinde – zum Beispiel – diese Gedanken A und B nicht als einander gefährdend, sondern wunderbar ergänzend und wohltönend zusammengehörig. Und ich will gern beide hören und leben, denn sie sind Zukunftsboden für meinen Glauben. Vielleicht tritt zu ihnen im Konzert der Stimmen sogar noch ein Gedanke C und D und E, so dass eine immer durchdachtere und gelassenere Reife in einer Fragestellung entsteht – Schwarzbrot, Gesundheit, geistliche Resilienz, die wir heute so nötig brauchen.
Geduldiger Umgang
Aber eben: Dazu müssten wir uns zumuten und einander zuhören. Müssten einander als Gabe und Aufgabe verstehen und verzichten auf schnelle Unterstellungen, so als ob die jeweils anderen (natürlich im Gegensatz zu mir!) keinesfalls einen klugen Einblick ins reale Leben hätten oder von berechtigter Sorge getrieben würden. Wir spielen Konzert! Und Gott wird geehrt durch unsere Sinfonie. Und allzu viele zerbrechen daran, dass sie nur Version A oder Reaktion B kennen und gar nicht bis zu einem reifen C oder D oder E durchdringen und verstehen, dass unser Denk- und Glaubensweg verschiedene Wirklichkeiten umarmen kann und immer reifer, immer kindlicher, immer demütiger, immer informierter und einsichtsvoller werden kann – und gerade deswegen nah bei Jesus bleibt. Ich will das immer wieder versuchen. Diese traumatisierte Welt braucht unsere gemeinsame Musik mehr denn je!
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