Von der Sehnsucht Gottes nach den Menschen
Sehnsucht. Wer kennt sie nicht…? Auch die – manchmal tief verborgene – Sehnsucht nach Gottes Nähe und Gegenwart, gerade dann, wenn ich mich in einem finsteren Tal wiederfinde.
«Sehnsucht steht für ein Gefühl, dass noch 'etwas' im Leben kommen soll. Etwas, das mehr ist. Sie ist so ein Gefühl von 'es könnte anders sein'. Sehnsucht ist immer ein Stück mehr als das, was absehbar ist.» (Vgl.Volkmar Seyffert, Beitrag zum Werkheft der Männerarbeit der EKD zum Männersonntag 2016) Sehnsucht hält die Hoffnung lebendig. Sehnsucht – das ist ein Lebensgefühl voller Energie, verbunden mit Liebe, Schmerz, Wut, Einsamkeit, Machtlosigkeit, Glück.
Zwei Seiten der Sehnsucht in der Bibel
In der Bibel wird kaum ausdrücklich von Gottes «Sehnsucht», seinem «Sehnen» oder «Verlangen» gesprochen. Und doch leuchtet Gottes Sehnsucht immer wieder auf. Die Bibel ist voll von Geschichten, Gebeten, Liedern, die von Gottes liebevoller Zuwendung einerseits, aber auch von seiner Heim-Suchung – im Gericht – erzählen. Sind das zwei Seiten der einen Sehnsucht?
So ruft Gott eines Abends im Garten Eden nach Adam. Es ist die erste Frage Gottes an den Menschen (1. Mose 3). Zuvor hatte Gott die Welt geschaffen und alles, was darinnen ist. Den Menschen schuf er zu seinem Bilde und hauchte ihm seinen Lebensatem ein.
«Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst... Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott», heisst es staunend in Psalm 8. In jedem Menschen ist etwas von der Schönheit und Kraft Gottes angelegt. Am Anfang hat Gott die Welt geschaffen, und es war gut. Gleich darauf ging der Mensch eigene Wege. Er hat Regeln verletzt. Er hat begonnen, sich von Gott zu entfremden.
«Mensch, wo bist du?» Mit dieser Frage kommt Sehnsucht in die Welt. Gott entlässt die Menschen aus dem Paradies und gibt ihnen die Sehnsucht in ihr Herz.
Gott sucht den Menschen
Zugleich geht Gott seinen Menschen auf ganz unterschiedliche Weise nach. Er sucht sie, wo immer sie sich hinwenden. Er bleibt ihnen verbunden. So wie die Menschen sich immer wieder verrennen, von Gott entfremden, so hört Gott nicht auf, die Menschen als seine geliebten Kinder anzusehen.
Zwar lässt er wegen der menschlichen Abwege die Sintflut beinahe alles Leben vernichten, jedoch steht am Ende über allem der Regenbogen – Zeichen eines bedingungslosen Bundes zwischen Gott und Menschen. Das murrende Volk wird in der Wüste mit Brot, Wachteln und Wasser versorgt. Den Menschen werden Regeln gegeben, damit sie leben können. Ein zu Tode erschöpfter Prophet Elia findet mitten in der Wüste Wasser, Brot und Ruhe, bevor er zum Gottesberg aufbricht. Dem Propheten Bileam stellt sich der Engel Gottes in den Weg. Durch Jesaja sagt Gott zu uns: Fürchte dich nicht; ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen.
Gott geht noch weiter und wird in Jesus Christus Mensch, lebt hier in dieser Welt voller Hingabe, Leidenschaft und sanftem Mut, er leidet und stirbt. Gott ist voller Sehnsucht, wieder eins zu sein mit seinen Menschen. Wie können wir uns von seiner Sehnsucht finden lassen?
Wo höre ich heute seinen Ruf: «Mensch, wo bist du?»
Von Gottes Stimme heisst es, dass sie nicht in einem Gewitter kommt; es ist «die Stimme eines verschwebenden Schweigens» (1. Könige Kapitel 19, Vers 12). Diese Stimme kann in mir klingen. Es braucht Ruhe und offene Sinne, damit ich mir selbst, meiner eigenen und der Sehnsucht Gottes auf die Spur komme. In das Hören auf Gott üben wir uns auch ein im Hören auf unsere Mitmenschen. Wenn ich jemanden ernsthaft frage «Wie geht es dir? Was beschäftigt dich?», dann klingt darin auch Gottes Frage, mit der seine Sehnsucht in die Welt gekommen ist: «Mensch, wo bist du?»
Die Geschichte einer Sehnsucht erzählt auch Jesus: Der jüngere Sohn hat den Vater um seinen Erbteil gebeten. Dann ist er in ein fremdes Land aufgebrochen. Dort verschwendet er alles, was er hat und landet hungrig als Schweinehirt bei einem Bauern. Nun, ganz unten, überlegt er, zu seinem Vater zurückzukehren und ihn um eine Anstellung zu bitten, damit er wenigstens leben kann. So kehrt er zurück. Der Vater sieht ihn von Ferne, läuft ihm entgegen, schliesst ihn in die Arme und nimmt ihn wieder in die Familie auf (Lukas 15).
Zwei Bilder Rembrandts zeigen diese Szene
Auf einer kleinen Tuschezeichnung hat Rembrandt den Moment der Rückkehr des Sohnes festgehalten. Man sieht förmlich, wie der Vater aufspringt. Der Stock fällt zu Boden. Mit geöffneten Armen läuft er auf seinen abgerissenen Sohn zu. Der sinkt nur noch auf die Knie.
Die Dynamik dieser Zeichnung ist berührend, die Leidenschaft, die Liebe, die alles andere in den Hintergrund stellt. Der Sohn lebt, er ist zurückgekehrt – darauf kommt es jetzt an.
Das andere Bild – ein Gemälde – hängt in der Eremitage in Petersburg. Der Sohn kniet vor seinem alten, blinden Vater. Er lehnt seinen Kopf an den Vater, die Augen geschlossen. Die Hände des Vaters liegen segnend auf Rücken und Schulter des Sohnes. Das Bild strahlt eine grosse Ruhe und Wärme aus.
Henri Nouwen war von diesem Gemälde tief ergriffen. Er schreibt (Nimm sein Bild in dein Herz, Freiburg, 1991): «Der Blick des blinden Vaters geht ins Ferne und Weite. Seine Schau ist eine ewige Schau, ein Schauen, das die ganze Menschheit umgreift, (...) das in unendlicher Barmherzigkeit um das Leid derer weiss, die sich entschieden haben, das Zuhause zu verlassen, und die Meere von Tränen weinten, als sie in Angst und Todesnot fielen. Das Herz des Vaters ist von einer unendlichen Sehnsucht entbrannt, seine Kinder heim zu bringen. (...) Seine Liebe kann nicht zwingen, nötigen, zerren oder stossen. Sie gibt die Freiheit, jene Liebe zu verwerfen oder wiederum zu lieben. Er will nur eine Liebe anbieten, die frei angenommen werden kann. (...) Die einzige Autorität, die er als Vater für sich in Anspruch nimmt, ist die Autorität des Erbarmens.»
In diesem Moment der Umarmung von Vater und Sohn kommt alle Sehnsucht an ein Ziel: die Sehnsucht Gottes, nach seinem geliebten Sohn und die Sehnsucht des Sohnes, endlich wieder heimzukehren.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Forum Integriertes Christsein.
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Datum: 17.03.2024
Autor:
Ruth Maria Michel
Quelle:
Forum Integriertes Christsein