Ein Ritt durchs Weltwissen: Jäger des verlorenen Verstandes
Vielleicht haben Sie den «Jäger des verlorenen Verstandes» geschenkt bekommen, vielleicht haben Sie ihn online bestellt, weil die Werbung dazu interessant klang, oder Sie schätzen Markus Spieker als Autor, als Journalisten und nicht zuletzt Christen, der historische und weltpolitische Ereignisse verständlich und gut auf den Punkt bringen kann. Und nun liegt das Buch vor Ihnen: ein Wälzer mit sage und schreibe 656 Seiten. Wertig sieht das Buch aus mit seinem dezenten Golddruck und dem tastbaren Cover. Versuchen Sie jetzt nicht, den Krümel oben wegzuwischen, denn der ist nur das verirrte Verlagslogo, das hier etwas untergeht. Und jetzt? Was tun Sie mit dem Buch?
Dumme Frage, meinen Sie? Das finde ich nicht, denn die meisten Bücher wie dieses enden als «Coffee-tabler». Eine Zeitlang liegen sie dekorativ auf dem Wohnzimmertisch und unterstreichen damit die breitgefächerten Interessen der dort Wohnenden, aber irgendwann wandern sie ungelesen ins Bücherregal zu den anderen Büchern. Tun Sie’s nicht! Nehmen Sie das Lese- und Gesprächsangebot von Markus Spieker an und schlagen Sie das Buch einfach mal auf. Wahrscheinlich werden Sie es nicht in einem Rutsch durchlesen – niemand behauptet, dass Sie das müssten! –, aber Sie werden schnell sehen: Man kann es wirklich lesen. Und langweilig ist es nicht.
Dick, aber lesbar
Was ist eigentlich «dick»? Die zwölfseitigen AGBs meiner Bank sind mir «zu dick», weil mich Juristendeutsch noch nie begeistern konnte. Historische Romane von Ken Follett oder Noah Gordon sind regelmässig 500 bis über 1'000 Seiten stark, werden aber von ihren Leserinnen und Lesern verschlungen. Da ist es kaum möglich, «Eine Weisheitsschule», die «die wichtigsten Erkenntnisse der letzten 3'000 Jahre» verarbeitet (so die Eigenwerbung), auf 164 Seiten abzuhandeln.
Wenn Sie das Buch aufschlagen, werden Sie allerdings feststellen, dass es keinen Telefonbuchcharakter hat: Grosse Schrift und viele Absätze erleichtern das Lesen. Mit seinen fünf Teilen und je vier Kapiteln ist es klar gegliedert. Sie wissen also, wo Sie gerade sind. Und das Beste: Hier schreibt jemand, der reden kann. Markus Spieker ist persönlich, zugewandt, ab und zu polemisch und spitz, aber immer verständlich. Sie müssen nicht seiner Meinung sein, aber Sie werden von seinen Gedanken profitieren – und wenn es nur auf die Art und Weise ist wie bei einem der im Buch beschriebenen «Schlauen». Der Pastor und Denker Oswald Chambers las den indischen Philosophen Rabindranath Tagore und meinte: «Zu welchen Schlussfolgerungen der Autor kommt, ist für mich von untergeordneter Bedeutung. Was mich fasziniert, ist, einem wachen Geist zu begegnen, der sich mir kompetent mitteilt.» Das können Sie bei Spieker auch erleben.
Zitiert, aber ohne Zusammenhänge
Wer ein Buch über Weisheit schreibt, ist sich bewusst, dass er nicht der erste ist, der dieses Thema aufgreift. So zitiert Markus Spieker weise und nicht so weise Menschen der Geschichte. Sein Buch lebt von den vielen Einblicken in ihr Denken. Die Zitate machen ihre Haltungen und Einstellungen greifbar, oft fehlt allerdings der Zusammenhang. Damit meine ich keinen Fussnotenapparat, der das Buch völlig überfrachten würde, sondern eine erkennbar unterschiedliche Gewichtung der Zitate. Eine Liedzeile von Whitney Houston kann maximal ihr Lebensgefühl widerspiegeln, hat aber nicht denselben Gehalt wie ein wohl ausformulierter und abgewogener Satz von Immanuel Kant. Dazu kommt das Problem des «Namedropping», wenn Sie alle paar Zeilen die nächsten Namen bekannter Denkerinnen und Denker lesen. Vieles davon dient Spiekers Argumentation direkt oder wird später noch einmal aufgegriffen. Manches bleibt beim Schmuckzitat und dem Grundgefühl, dass auch wichtige Autoren wie Jean Paul den eigenen Ansatz unterstützen. Wer war noch mal Jean Paul? Fällt Ihnen eines seiner Bücher ein? Oder haben Sie gar «Siebenkäs» gelesen? Ich nicht.
Flapsig, aber tief
Immer wieder kritisiert Markus Spieker aktuelle Seichtheit und einen gewissen Niedergang der Kultur. Im Spiegel der Klassiker, die er für sein Buch bemüht, erscheinen viele seiner tagesaktuellen Beispiele tatsächlich als verzichtbar. Zum Glück versucht er sich selbst allerdings nicht als Gralshüter der Hochkultur. Fröhlich schreibt er denglisch vom Thrill, jugendsprachlich vom Honk und spielt überhaupt mit seinen Ausdrücken und Überschriften. Dass er zusammen mit Udo Lindenberg («Hinterm Horizont wird’s heiter») das Paradies thematisiert, wertet seine Gedanken auf keinen Fall ab. Tatsächlich ist es eine der Stärken des Buchs, wichtige und grosse Themen locker zu präsentieren, ohne sie dabei über Gebühr zu vereinfachen.
Nicht DER, aber EIN Versuch
Erklär-mir-die-Welt-Bücher hatten schon immer einen Markt. Wenn ihre Qualität einigermassen stimmt, dann bieten sie tatsächlich viele komprimierte Informationen auf (relativ) wenigen Seiten. Ein christlicher Klassiker in dieser Richtung war die Kulturgeschichte von Francis Schaeffer «Wie können wir denn leben» von 1976. Eine aktuellere säkulare Variante bietet «Eine kurze Geschichte der Menschheit» von Yuval Noah Harari (2011). Und jetzt ist ein weiteres Werk dazugekommen: «Jäger des verlorenen Verstandes». Wie seine zahlreichen Vorläufer ist auch dieses Buch nicht der Weisheit letzter Schluss, aber im Sinne von Sprüche, Kapitel 9, Vers 10 vielleicht ihr Anfang: «Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit.»
Wenn Sie nur ein paar kurze Informationen zum Nachschlagen suchen oder gerne mitreden möchten, hilft Ihnen Markus Spiekers neues Buch kaum weiter. Es zeichnet eher grosse Linien als kleine Bildchen und leider hat es kein Schlagwortverzeichnis, in dem sich seine Dichterinnen und Denker nachschauen liessen. Wenn Sie die Weisheit aber nicht «von der Stange» suchen, sondern sich an den Gedanken und Schlussfolgerungen des Autors reiben möchten, dann sind Sie hier genau richtig. Markus Spieker bietet Ihnen viele Impulse dazu und am Ende sogar eine siebenteilige Zusammenfassung, die tatsächlich hilfreich ist und nicht platt. Das grösste Potenzial entfaltet das Buch aber, wenn Sie mit anderen darüber reden, nachdenken und sich selbst auf die Jagd nach Weisheit machen. Dann ist ihr Buch vermutlich bald kein hübscher «Coffee-tabler» mehr, sondern sieht zerlesen und gebraucht aus. Hoffentlich.
Zu Gast im Livenet-Talk
Anlässlich seines neuen Buches war Spieker zu Gast im Livenet-Talk. Darin teilt er einige wertvolle Weisheits-Schätze und zeigt auf, warum es sich lohnt, der Weisheit nachzujagen. Sehen Sie sich den Talk mit Markus Spieker an:
Zum Buch:
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