Die recyclete Kathedrale
Ein 90-Jähriger, der emsig auf einer grossen Baustelle herumwuselt und ständig an verschiedenen Stellen werkelt, das war Justo Gallego Martínez. Sein Leben hatte der ehemalige Trappist dafür investiert, und zwar fast im Alleingang. Endlich, im vergangenen April, wurde das Original zum Ehrenbürger seiner Stadt ernannt. Und dies, nachdem er letztes Jahr als Gotteskind seine himmlische Wohnstätte beziehen durfte.
Zurzeit zeigt das Schweizer Fernsehen SRF eine der wenigen Dokumentationen über das eigenbrötlerische Ausnahmetalent.
Lebenswerk und Mission
«Ich habe kein Geld, aber mit dem Hammer in der Hand gebe ich den Menschen ein Beispiel», so erklärte Martínez in einem Interview. «Manchmal werde ich sogar mit Antoni Gaudí verglichen. Aber mich deshalb als Künstler zu bezeichnen? Nein, ich bin einfach nur ein Diener Gottes.»
Während einer schweren Tuberkuloseerkrankung musste er das Kloster verlassen, worauf die Idee entstand, als Dank seiner Genesung dieses Monument, eine eigene Kathedrale, zu erschaffen – ein wahres Meisterwerk.
Die Stadtgemeinde von Mejorada del Campo duldete den eigensinnigen Autodidakten lange nur widerwillig. Man glaubte nicht, dass der ehemalige Mönch eine Kirche bauen könnte. Eine Aussage sollte ihm Recht geben: «Der Friedhof ist voll von guten Vorsätzen. Ich probiere sie zu leben.» Doch später steigerte sich die Anerkennung weltweit und hilft heute der Ortschaft zu grossem Ansehen.
Bauherr, der auf den Jesus-Baustein baut
Unermüdlich meinte der Senior einmal: «Dank meiner Liebe zu Christus werde ich nicht müde. Viele Menschen werden müde und langweilen sich…» In der Tat staunt der Zuschauer, wenn er den aktiven Rentner auf den Baugerüsten oder bodenständig mit diversen Materialien hantierten sieht.
Justo Gallego Martínez wurde am 20. September 1925 an seinem Wirkungsort, Mejorada del Campo, geboren, wo er dann auch verstarb. Als Trappistenmönch (Zisterzienser) konnte er mit seiner Erkrankung nicht in der Abtei bleiben, andererseits hatte der Querdenker schon damals Mühe, sich in die Gemeinschaft einzufügen. So lebte er zeitlebens mit seiner Schwester nahe des Bauwerkes. «Ich kann nicht aufhören. Manchmal kann ich kaum noch meine Arme heben. Jeden Morgen bete ich, dass mich Gott bald zu sich holt», meinte er einmal.
Velorahmen statt Vereinbarung
Eine der vielen Eigenheiten der Kathedrale sind die Materialien, die gebraucht wurden – fast alles bereits verwendetes Material oder Restposten: Ziegeln, Velorahmen oder Schrauben und unendlich viel mehr, das unbenutzt rumlag.
1961 nahm der Baukünstler das Projekt in Angriff; im 23'000-Einwohner-Ort, etwa 20 Kilometer östlich vom Stadtzentrum Madrids. Am Anfang gab es gar nichts – und zwar auf jeder Ebene; schon gar keine Pläne oder Bewilligungen für das Gotteshaus. «Ich habe alles in meinem Kopf», sagte Justo Martínez dazu. «Ich liess mich durch Bücher über Kathedralen und Schlösser inspirieren und wurde erleuchtet.»
Bauliche Bestätigungen und Bewilligungen
«Es ist unglaublich, dass diese Kathedrale von ein bis zwei Männern ohne Pläne und ohne statische Berechnungen errichtet wurde», sagt Jesús Jiménez Cañas, Partner beim Ingenieurbüro Calter. «Aufgrund einer gefährlichen Überbelastung einer Seitenwand mussten wir in den letzten Wochen vier Kuppeln abreißen. Doch abgesehen davon ist das Tragwerk sehr steif, und trotz der unkonventionellen konstruktiven und gestalterischen Details ist das Gebäude robust und hochwertig ausgeführt.»
Sogar ein Eilantrag wurde im Rathaus beschlossen, um das Werk als besonders wertvoll zu schützen. Nun findet sich in der Zwischenzeit die «Catedral de Justo», wie sie alle nennen, in Reiseführern und wurde als Bien de Interés Cultural (BIC), als «sehenswertes Kulturgut», eingestuft.
Meilenstein und fundamentale Etappe
Eine Werbung für die Mineralwassermarke Aquarius im Jahr 2005 und eine Fotoausstellung im Museum of Modern Art (MoMA) in New York machten den originellen Baumeister – und somit Mejorada del Campo – schlagartig berühmt. Touristen und Architektur-Interessierte aus aller Welt pilgerten in die Kleinstadt und wollten den «verrückten Maurer», den «Narr Gottes» treffen. Andererseits hatten lange Zeit die Stadtväter kein einziges Hinweisschild zur grössten Attraktion aufgestellt.
So vorteilhaft die Bekanntmachung war, konnte es dem Eigenbrötler doch auch zwischendurch die Mütze heben und er meinte: «Hören Sie auf, mit mir zu reden, ich muss arbeiten! Fotografieren geht auch nicht! Werfen Sie lieber Geld in die Box, damit ich wieder Mörtel kaufen kann!»
Bauwunder und Basilika
Als 36-Jähriger hatte Martínez mit dem Bau seiner verschnörkelte Basilika Nuestra Señora del Pilar begonnen. Sie wuchs dann zu einer Grösse von 8'000 Quadratmetern und einer stattlichen Höhe von mehr als 35 Metern an, mit einer Breite von 25 Metern.
«Don Justos Kathedrale» besteht beispielsweise aus einer unvollendeten zweitürmigen Westfassade, einem säulengetragenen Hauptgang, die blaue Kuppel ist circa 36 Meter hoch und bereits errichtet, die beiden Westtürme sollen 58 Meter hoch werden. Trotz morscher Teile und fehlendem Material kam es in all den Jahren nie zu einem Unfall.
Die meisten Baustoffe und Werkzeuge, die Don Justo verwendete, sind wiederaufbereitet. Der Mörtel für die Fugen wurde beispielsweise in alten Treibstofffässern angerührt und die Schalungen für die hohen Säulen aus Beton sind Kartontrommeln. Oder er benutzte übrig gebliebenes Material wie Betonelemente, Velorahmen und Ölfässer.
Gelegentlich hatte der alternative Baumeister Hilfe seiner sechs Neffen oder einiger Freiwilliger. Manchmal stellte er Fachleute ein, für die er selber aufkam. Er finanzierte seine Arbeit durch Verpachtung und Verkauf von Ackerland, das er übernommen hatte, oder durch private Spenden. Das dürften bereits beträchtliche Summen an liquiden Mitteln sein.
Der Nachfolger regelt
Schon vor einigen Jahren hatte er die Kathedrale seinem Assistenten und Wegbereiter Ángel Lopez überschrieben, der seit 1997 an seiner Seite war. Er will die Arbeit seines Meisters fortführen.
«Justo hat sein Leben dem Bau dieser Kirche gewidmet», sagte Ángel Lopez im Gespräch mit der Tageszeitung El Español, «und ich empfinde eine Verantwortung, sein Werk zu vollenden. Ohne Plan? Ohne Bewilligung? Ich denke nicht. Jetzt geht es darum, eine Regelung zu finden.» So hat sich das spanische Ingenieurbüro Calter der Kirche angenommen und diese auf ihre Tragfähigkeit und Ausführungsqualität überprüft.
Bleibt sie unvollendet?
Mit der Sagrada Família in Barcelona, 500 Kilometer östlich von «Justos Kathedrale», besteht bereits eine «ältere Schwester». Aber soll sie dieselbe Dynamik annehmen, wie geht man mit so einem mächtigen Hand- und Kunstwerk um, und wie bewahrt man Justo Gallegos Geist, der schon vor 60 Jahren zu aktivem Recycling antrieb? Und wie schlimm wäre es wirklich, wenn das Bauwerk nicht fertig gestellt würde, was bedeutet fertig und vollendet?
Vielleicht könnte auch hier der Weg mindestens so wichtig sein wie das Endergebnis. Denn gerade all die Details in diesen gewaltigen Dimensionen haben eine grossartige Anziehungskraft – und davon kann es fast nicht genug geben.
Martínez hat in seinem Testament das Bistum Alcalá de Henares als Erben bestimmt. Ebenfalls hinterlassen sind folgende Zeilen des frommen Lebenskünstlers: «Für mich ist jeder Tag wichtig, an dem ich dem Herrn meinen Dienst anbieten kann, und ich bin glücklich über das, was ich erreicht habe.»
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Datum: 07.09.2023
Autor:
Roland Streit
Quelle:
Livenet