Trauern statt Verdrängen
Für viele wird sie spätestens jetzt völlig befremdend, diese Bergpredigt. Zu sehr stemmt sich Jesus mit dieser «Seligsprechung» (Matthäus-Evangelium, Kapitel 5, Vers 4) scheinbar der Stimmung unserer Spassgesellschaft entgegen. Wie kann man Trauer für gut heissen? Ist die Welt nicht schon traurig genug – sollten wir nicht vielmehr Freude und Spass reinbringen? Hat nicht schon Nietzsche gesagt, die Christen müssten erlöster aussehen? «Forget your troubles» – das Evangelium ist doch eine frohe Botschaft, oder? Warum rühmt Jesus dann Menschen in Trauer?
Trauer: Gott ist schon da
Zunächst: Jesus redet sicher keiner christlichen Griesgrämigkeit das Wort. Aber es gab unter den Menschen, die Jesus zuhörten (und es gibt unter denen, die diesen Artikel lesen), ganz sicher Menschen, die trauern: um den Verlust eines geliebten Menschen, um eine verpasste Lebenschance oder sonst einen Schmerz. Denen sagt Jesus zunächst ganz direkt: «Du, Gott hat dich nicht vergessen. An den Tiefpunkten deines Lebens ist nicht das blanke Nichts, sondern Gott steht da.» Gott begegnet uns an den dunklen Orten unseres Lebens, wo alles von Tiefrot zu Schwarz wechselt.
Wenn wir solche Zeiten verdrängen oder betäuben, kann es sein, dass wir Gott verpassen. Gott spricht im Vergnügen, aber er ruft im Schmerz. Das Leben tut weh, Verlust und Schmerz sind Realitäten – Jesus sagt: Ich bin da. Gott ist kein Schönwettergott und auch kein distanzierter, lächelnder Buddha. Er hat sich dem Schmerz der Welt gestellt. Schliesslich hat er seinen eigenen Sohn hingegeben und weiss, wie sich Verlust anfühlt.
Was ist gut an der Trauer?
Trauer an sich ist kein Verdienst (genau so wenig wie Armut in der ersten Seligpreisung). Aber in der Trauer werden wir offen. Wir sind näher am Leben dran. Ich merke das immer bei Beerdigungen: Für ein paar Momente öffnen sich bei uns Tiefenschichten, die wir sonst sorgsam zudecken. Trauer ist Reaktion auf Verlust und sollte nicht zu schnell wieder verdrängt werden.
Wenn Trauern «selig» ist
Jesus redet hier aber nicht primär von persönlicher Trauer über einen Verlust, sondern von einer tieferen Traurigkeit über den Zustand der Welt – und meinen eigenen. Solch ein geistliches «Trauern» ist die normale Folge der Erkenntnis, dass ich vor Gott «arm» bin. Das tut weh. Wer sich anschaut und den Blick in den Spiegel aushält, wird trauern, dass er so ist. Das nennt Jesus: «Selig bist du! Glücklich zu preisen!» Warum? Weil es zeigt, dass man etwas von Gott verstanden hat. Wie viel oberflächliches «Ich bin schon OK» kommt ganz einfach daher, dass man Gott nicht kennt – bzw. die heisse Seite Gottes ausblendet. Gott ist heilig, ich nicht. Punkt. Wer sich selbst kennenlernt und sich an Gottes Massstäben misst, wird daran leiden. Wer die Zerrissenheit des Lebens in der Tiefe spürt, wird darunter leiden. Das ist Trauern.
Wider das Verdrängen
Paulus – ein hoch achtbarer Mensch – litt an diesem Zustand, den er als inneren Konflikt erlebte: «Ich will eigentlich Gutes tun und tue doch das Schlechte; ich verabscheue das Böse, aber ich tue es dennoch» (Römerbrief, Kapitel 7. Vers 19). Wenn es ums «Wissen» ginge, wäre die Welt schon lange perfekt. Aber wir sind tief widersprüchliche Wesen. «Trauern» bedeutet, dass man diese Erkenntnis und diesen Zustand einfach mal aushält – und damit ein Stück Ja sagt zum Schmerz Gottes über diese Welt.
Wider den Abkürzungen
Nur wer das wirklich durchlebt, kann auch glücklich werden. Jesus warnt uns also, nicht zu schnell zur Tagesordnung überzugehen. Marx hatte recht: Religion ist Opium des Volkes. Wenn wir zu schnell ein paar Verssatzstücke der Bibel zusammenschustern, kann das auf eine Selbstbetäubung hinauslaufen. Aber das Evangelium ist kein Weichspüler, sondern ein Wachmacher. «Trauern» ist ein Zustand, der eine bestimmte Zeit braucht. Nur wer echt trauert, wird auch echt getröstet. Es gibt eine christliche Halleluja-Euphorie, die am Anfang nett ist, aber auf die Dauer auf die Nerven geht. Ganz einfach, weil sie aufgesetzt ist. Weil ihr die Tiefe fehlt. Sie ist eine Antithese ohne These.
Auch fremdes Leid tragen
Trauern kann man nicht nur über eigenes Leid, sondern auch über fremdes. Damit sagt Jesus: «Selig ist, wer sich seinem Nächsten nicht verschliesst.» Wir lachen gern mit den Lachenden – etwas anderes ist es, zu weinen mit den Weinenden. Trauern heisst: Nicht vorschnell abblocken oder mit schnellen Sprüchen zufüllen, sondern Leid aushalten und mittragen.
Trauer ist nicht das Ende
«… denn sie sollen getröstet werden». Der Endzustand ist nicht das Trauern, sondern Getröstet-Sein. Trost ist gefülltes Vakuum, reale Hoffnung: Du sollst nicht so bleiben, wie du bist! Du sollst, kannst und wirst anders werden. Denn hier kommt Jesus ins Spiel. Was du nicht kannst, hat er getan. Er hat für Schuld und Unvollkommenheit bezahlt. Damit reicht Jesus uns die Hand und zieht uns aus dem Sumpf unserer eigenen Zwiespältigkeit und Zerrissenheit. Echte Trauer bringt echte Freude, die mit nichts zu vergleichen ist. Selig ist, wer zuletzt lacht.
Auch für die Welt gilt: Wer jetzt trauert, wird getröstet werden. Wer jetzt unter ihrer Zerrissenheit leidet, soll wissen: Gott macht nicht nur einzelne Menschen neu – ein neuer Himmel und eine neue Erde werden kommen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Wir werden uns in den kommenden Wochen mit den «Seligsprechungen» von Jesus beschäftigen. Nächste Woche: «Mut zur Sanftheit».
Zum Thema:
Glauben entdecken
Dossier: Seligpreisungen
Seligsprechung: Alles auf den Kopf gestellt
Auf den Kopf gestellt: Das Reich der Armen
Datum: 03.08.2023
Autor:
Reinhold Scharnowski
Quelle:
Jesus.ch