Wenn ein Kind vor der Geburt stirbt
Seit knapp zehn Jahren setze ich mich politisch für Sternenkinder und ihre Hinterbliebenen ein. Aktuell ist mein grösstes Ziel, dass Sternenkinder ungeachtet ihres Alters und Gewichts in allen Kantonen bestattet werden dürfen. In einigen Kantonen ist dies bereits möglich, in anderen von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. Wir haben also noch einen langen Weg vor uns, bis allen Sterneneltern in der Schweiz eine angemessene Trauer möglich ist. Bis dahin könnten wir als Gesellschaft – insbesondere wir Christen – unseren Anteil daran wahrnehmen, die Trauer von Sternenkinder zu erleichtern. Als Schwester mehrerer Sternenkinder erlebe ich hier noch grosses Entwicklungspotenzial. Wenn ich daran denke, dass laut Schätzungen jede dritte Frau betroffen ist und viele Familien nicht nur eines, sondern mehrere Kinder verlieren, wären die Chancen riesig, wenn anders mit dem Verlust umgegangen werden könnte. Viele Verletzungen Betroffener entstehen erst nach dem Kindsverlust durch Reaktionen des Umfelds.
Nicht totschweigen
Oft entstehen unsensible Reaktionen durch die Überforderung Aussenstehender dem Thema gegenüber. Kinder sterben nicht vor ihren Eltern, das darf nicht sein! Eben erst hat man zur Schwangerschaft gratuliert, doch was nun? Man hat das Kind ja gar nicht wahrgenommen, nicht gekannt, also hat es für einen quasi nie existiert. Manche Menschen haben auch Angst vor der Reaktion Betroffener, wenn sie das Thema anschneiden würden. Nicht selten resultiert daraus eine Sprachlosigkeit: Das Thema wird ignoriert, die Strassenseite wird gewechselt, und wenn das Thema doch unmittelbar auftaucht, wird es schnellstmöglichst gewechselt. Dass das Kind gestorben ist, mag für die Eltern schlimm sein, doch dass es danach von der Gesellschaft buchstäblich totgeschwiegen wird, ist noch viel schlimmer.
«Ich bin für euch da»
Also lieber darauf reagieren, aber wie? Auch ich kenne das bedrückende Gefühl, das sich breitmacht, wenn Bekannte ein Kind verlieren. Man würde das Geschehene am liebsten ungeschehen machen oder zumindest lindern. Hier wartet bereits eine weitere Falle: das Herunterspielen. Nur zu oft hört man in von Fehlgeburten betroffenen Kreisen unsensible Kommentare wie: «Kopf hoch, ihr werdet bestimmt noch mehr Kinder bekommen.» «Dann sollte es halt so sein.» «Es war ja noch kein richtiger Mensch.» Wenn man sich in betroffene Familien hineinversetzt und sich diese Kommentare nochmals durchliest, wird klar, dass diese nur neue Verletzungen verursachen.
Die Tatsache, dass das Kind gestorben ist, ist schrecklich. Dies kann nicht ungeschehen gemacht werden, das ist auch den Eltern klar. Dieser Verlust ist gross und kann durch Worte nicht kleiner gemacht werden. Das Wichtigste ist, dass die Trauer anerkannt wird. Wie wäre es, wenn man einfach sagen würde, dass einem der Verlust leid tut? Oder wenn man sprachlos ist, diese Sprachlosigkeit ansprechen würde? Ein «Ich weiss nicht, was ich sagen soll, aber es tut mir so leid» oder ein «Ich bin für euch da» würde Wunder wirken. Wer sich etwas mehr getraut, darf auch über das Kind sprechen. Eltern lieben ein totes Kind nicht weniger als ein lebendiges Kind und nichts ist schöner, als wenn sie diese Liebe zeigen dürfen. Warum nicht einmal zum Kind gratulieren? Nicht zum Tod des Kindes, aber dazu, dass das Kind da war, dass es ihr Kind ist und sie zu Eltern macht.
Man kann Trauer nicht vergleichen
Der dritte Stolperstein ist, wenn versucht wird, Trauer zu vergleichen. Trauer ist individuell, sie dauert unterschiedlich lange und wird auf unterschiedlichen Wegen beschritten. Zahlen können Trauer nie messen – weder das Alter, die Länge der Trauer, die Anzahl Verluste noch ihre Art. Es soll nicht darum gehen, wessen Verlust der Schlimmere ist oder welche Art der Trauer angemessener – besser wäre doch, einfach gemeinsam zu trauern und sich liebevoll zu erinnern.
Den Rest der Familie nicht vergessen
Wenn von einer Fehlgeburt gesprochen wird, denkt man oft automatisch an die Mutter. Ohne Zweifel hatte sie einen anderen körperlich-emotionalen Bezug zum Kind als der Rest der Familie. Dies bedeutet aber nicht, dass der Vater und auch die Geschwisterkinder vergessen werden dürfen! Auch sie trauern auf ihre eigene Art.
Ich wünsche mir, dass wir eine gemeinsame Erinnerungskultur für Sternenkinder aufbauen. Dass wir mit offenen Augen, Ohren und Herzen des Themas gegenüber durchs Leben gehen, damit immer mehr Familien über ihre Sternenkinder sprechen und ihre Liebe zu ihnen ausdrücken dürfen. Ich wünsche mir, dass wir der Sprachlosigkeit Einhalt gebieten. Dass wir nicht versuchen, Trauer zu werten oder herunterzuspielen, sondern unsere Gefühle zeigen und die Gefühle anderer zulassen. Ich wünsche mir, dass wir die Väter und Geschwister in ihrer Trauer nicht mehr vergessen. Und ich wünsche mir, dass wir die Nächstenliebe zu Sternenkindern, Sterneneltern und Sternengeschwistern offen leben, weil Gott alle Menschen liebt.
Fragen und Anliegen bezüglich Sternenkindern, insbesondere deren Geschwister, dürfen gerne via Privatnachricht auf Instagram an Janina Müller geschrieben werden.
Hier sehen Sie den Talk zum Thema Sternenkinder:
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