Wie «Wir Kinder von Moldawien» ganze Dörfer belebt
Beat Sannwald, was geschieht beim Projekt «Wir Kinder von Moldawien»?
Beat Sannwald: Es ist ein Projekt der «Christlichen Ostmission» zugunsten verwahrloster Kinder. In Tageszentren bekommen sie Hilfe und Unterstützung vieler Art, zum Beispiel ein nahrhaftes Mittagessen und Hilfe bei den Hausaufgaben. Sie können dort die schulfreie Zeit verbringen, spielen, biblische Geschichten hören und auch viel Praktisches lernen. An all dem mangelt es den Kindern zuhause. Die Betreuerinnen und Betreuer in den Tageszentren – übrigens alles Ehrenamtliche – sind für die Kinder Bezugspersonen und auch Vorbilder dafür, wie ein Leben gelingen kann. Gerade an der Schwelle zum Erwachsenwerden sind solche Beziehungen sehr wertvoll. Aktuell betreuen die Teams in 134 Tageszentren gut 3'800 Kinder, ein Viertel davon sind Teenager.
Das Projekt existiert seit rund zehn Jahren; wie hat es sich entwickelt?
Anfänglich hatten wir vor allem kleinere Kinder im Blick, inzwischen auch Oberstufenschülerinnen und -schüler. Die Tageszentren unterstützen diese in Teenagerclubs insbesondere bei der persönlichen Entwicklung und bei der Berufswahl. Für Jugendliche, die sich gegen eine weiterführende Schule entscheiden, bauen wir ein Netz von Berufsleuten auf, die in ihrem Fach eine acht- bis neunmonatige Berufsausbildung anbieten. Bei der erstmaligen Durchführung 2023 schlossen 16 Jugendliche bei acht Ausbildnern (Imker, Baufachleute, Coiffeure, Innendekorateure, Gemüseproduzenten) eine solche Ausbildung ab. 14 Ausbildner bilden dieses Jahr 34 Lernende aus. Damit können Jugendliche eine Anstellung finden oder selbstständig ein Einkommen erwirtschaften.
Können Sie ein, zwei Geschichten erzählen von Kindern, die heute junge Erwachsene sind und die durch das Projekt einen ganz anderen Weg finden konnten?
Andrei kam als Zehnjähriger erstmals in ein Tageszentrum. Er stammte aus sehr schwierigen Familienverhältnissen, man lebte am Existenzminimum. Dann ging die Firma, wo der Vater arbeitete, Konkurs und er stand auf der Strasse. Mangels Alternativen verdingte er sich von da an als Landarbeiter – zu einem Hungerlohn. Er fühlte sich als Versager und suchte Trost im Alkohol. Nach wenigen Monaten war er süchtig und nicht mehr fähig, einer Arbeit nachzugehen. Die Mutter tat, was sie konnte, doch auch sie hatte nur einen Minimallohn. Und alles, was ihrem Mann in die Hände kam, machte er zu Alkohol, sogar Hausrat. Schliesslich sah die Mutter keinen anderen Ausweg mehr und trennte sich von ihm. Es war eine schwere Zeit für die Familie. Als Andrei 10 war, lernte sie einen anderen Mann kennen. Die Kinder mochten ihn nicht, aber man arrangierte sich – bis er die Mutter dazu überredete, mit ihm nach Russland zu gehen. Die beiden Buben blieben bei den Grosseltern. Manchmal kam etwas Geld aus Russland, aber sie vermissten ihre Mutter sehr. In jener Zeit entstand im Dorf ein Tageszentrum und es wurde für Andrei und seinen Bruder zum rettenden Hafen. Sie verbrachten jede freie Minute dort und liebten es. Die Buben blühten auf und auch ihre schulischen Leistungen besserten sich merklich. Als Andrei etwas älter war, half man ihm im Tageszentrum, sich Gedanken über seinen beruflichen Weg zu machen. Er tat nichts lieber, als elektrische Geräte zu zerlegen, zu reparieren und wieder zusammenzubauen. Also schrieb er sich in einer Technischen Schule für Computer und Mikroelektronik ein. Er arbeitet hart und träumt schon davon, Elektroingenieur zu werden.
Im Zusammenhang mit der Berufsausbildung kommt mir auch Valeria in den Sinn. Sie wurde als fünftes Kind alkoholsüchtiger Eltern geboren. Mit drei verlor sie den Vater, mit vier die Mutter. Danach kam sie in eine Pflegefamilie, in der sie leider mehr Ablehnung als Zuwendung erlebte. So wuchs über die Jahre ihr Hass auf die ganze Situation. Nach Abschluss der 9. Klasse riss sie aus und kam darauf bei einer Schwester unter. Doch nur wenige Monate später wollte diese von Valeria nichts mehr wissen und so landete das Mädchen auf der Strasse. Über den Sozialdienst kam sie daraufhin in ein Kinderheim. Die Leiter kannten unser Projekt und auch das Angebot in der Berufsbildung. Nach weiteren Umwegen gelang es, Valeria dafür zu gewinnen. Inzwischen ist sie 19-jährig und begeisterte Coiffeuse.
Gibt es Gegenden oder Dörfer, die durch das Projekt ‘vitalisiert’ werden konnten?
Messbare Resultate liegen nicht vor; ein Seminar über Dorfentwicklung ergänzend zu ‘Wir Kinder von Moldawien’ ist erst am Entstehen. Wenn Tageszentren dies wünschen, stellen wir ihnen Geld zur Verfügung, damit sie mit den Jugendlichen Lebensmittel an alte Menschen im Dorf verteilen und für sie die eine oder andere Hilfe erbringen können. Viele dieser alten Menschen sind mittellos und einsam. Das Projekt schafft Beziehungen im Dorf und sensibilisiert die Jugendlichen für die Nöte von Mitmenschen.
Welche Rolle spielt der christliche Glaube bei diesem Projekt?
Wir arbeiten ausschliesslich mit Kirchgemeinden zusammen, und zwar mit solchen, die bereits Angebote für Kinder hatten. So stellen wir sicher, dass die Mitarbeitenden Erfahrung haben in der Arbeit mit Kindern und biblische Geschichten altersgerecht weitergeben können. Interessierte Kirchgemeinden müssen auch aufzeigen, dass sie über genügend Freiwillige verfügen, um ein Tageszentrum zu betreiben.
Was bewegt Sie persönlich bei Ihrer Arbeit?
Ich habe bei Besuchen in den Tageszentren regelmässig mit Christen zu tun, die kein gesichertes Einkommen haben. Während andere ständig auf Arbeitssuche sind und sich ein ehrenamtliches Engagement nicht vorstellen könnten, sind sie begeistert im Tageszentrum dabei und strahlen richtig vor Erfüllung, im Leben dieser verwahrlosten Kinder einen so wesentlichen Beitrag leisten zu können. Dabei sind die Herausforderungen sehr gross, kommen doch die Kinder in den allermeisten Fällen mit sehr schwierigen Verhaltensweisen. Zu erleben, wie Gott diese Ehrenamtlichen versorgt, macht mich immer wieder sehr demütig.
Das Projekt wird ausgeweitet auf «Tausend und ein Kinderlachen – Tageszentren für Tadschikistan»; was ist hierbei geplant?
Seit 2022 betreiben wir in Tadschikistan fünf Tageszentren, die mit je vierzig Kindern ausgelastet sind. Die Situation in Tadschikistan hat sich als schwieriger als in Moldawien herausgestellt. Mehrmals schon haben wir erlebt, dass Behörden Verleumdungen zum Anlass nahmen, ein Tageszentrum zu schliessen. Selbst als sich die Anklagen als falsch herausstellen, zögerten sie die Wiedereröffnung lange hinaus. Die Teams in den Tageszentren wachsen beim Betreuen der muslimischen Kinder über sich hinaus und knüpfen auch Kontakte zu den Familien der Kinder. Auch ist es sehr ermutigend zu sehen, wie die Teams die Integration des Tageszentrums ins jeweilige gesellschaftliche Umfeld fördern, so zum Beispiel verschiedene lokale Berufsleute einladen, um über ihre Arbeit zu berichten.
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Datum: 01.07.2024
Autor:
Daniel Gerber
Quelle:
Livenet