Dazugehören – für mehr Inklusion in unseren Kirchen
Viviane Krucker-Baud, Co-Präsidentin der SEA, erzählte, dass sie als Kind mit ihrer Schwester und deren Freundinnen eine Zirkusvorstellung einüben wollte. Doch die ältere Schwester habe sie immer wieder weggeschickt. Schon damals habe sie gespürt: Menschen wollen dazugehören, Teil des Ganzen sein, sich einbringen können. Auch in Kirchen gelte: «Alle sind aufgefordert, Jesus nachzufolgen und ihm zu dienen. Gemeinsam sind wir ganz – dazu müssen wir nicht perfekt sein.»
Keine besonderen Bedürfnisse
Es sind nicht nur die architektonischen Hürden, die es Menschen mit Behinderung erschweren, am kirchlichen Leben teilzunehmen. Noch immer wird viel für sie, wenig mit ihnen zusammen geplant und durchgeführt. Das soll sich ändern, findet die Berner EVP-Grossrätin und Gymnasiallehrerin Simone Leuenberger. Sie strebt statt des Diskriminierungsverbots ein Gleichstellungsgebot an. Wegen einer Muskelkrankheit ist sie mit dem Rollstuhl unterwegs. Deshalb sei sie jedoch kein «Mensch mit besonderen Bedürfnissen», sondern habe die gleichen wie alle anderen auch: in einer eigenen Wohnung leben, Partnerschaft und Beruf wählen, Teilhabe am gesellschaftlichen und kirchlichen Leben.
«Jede Person ist immer wieder auf Hilfe anderer angewiesen – in der Schweiz leben 1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung», erklärte Leuenberger. Mit dem Alter nähmen diese zu, zum Beispiel abnehmendes Seh- oder Hörvermögen, eingeschränkte Beweglichkeit. Schon in der Bibel werde dazu aufgefordert, Blinden keine Hindernisse in den Weg zu legen. Und Gott habe Mose mit Aaron einen persönlichen Assistenten zur Seite gestellt, der dessen Unfähigkeit, zu sprechen, ausglich. Diese Selbstverständlichkeit fehle noch vielerorts – weder die Schweiz noch Kirchen seien Vorbilder in Sachen Inklusion. Doch sie hält daran fest: «Wir sind als Gesellschaft und Gemeinden unterwegs – wie beim Sauerteig wird unsere Gemeinschaft davon durchmischt.»
Totale Inklusion ist Illusion
Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich, übersetzte Jesu Aufforderung zur Nächstenliebe so: «Das ist mein Gebot, dass ihr einander inkludiert, wie ich euch inkludiere.» Kunz führte aus, dass «Inklusion eine Bewegung der Freude und der Freundschaft ist, dass sie zu uns und in uns hineinkommt, weil Gott uns zuvorkommt». Dass aus dem eigenen Inkludiert-Sein der innige Wunsch entstehe, andere zu inkludieren und Inklusion ein evangelisches Gebot und nicht Gesetz sei, «weil sich darin der Glaube zeigt, der sich in der Liebe erfüllt».
Er ist von einer Hörbehinderung betroffen und weiss: «Die totale Inklusion ist eine totale Illusion.» Sie sei mehr eine Ideologie als ein Ideal – es gehe immer um Kompromisse und sei eine fantastische Herausforderung: «Wie können möglichst viele die Wahrheit kosten? Wie wird Gerechtigkeit schön? Wie gelingt es, zwischen dem vernünftigen Auseinander und Nebeneinander, das manchmal nötig ist, und dem fröhlichen Durcheinander, das von Zeit zu Zeit überfällig ist, eine Kultur des Miteinanders zu leben, in der Freundschaften mit den Anderen gepflegt werden?» Er fordert dazu auf, nicht vor allem Kosten, sondern kostbare Menschen im Fokus zu behalten.
Zmitzdrin
Zum ersten Mal wurde der Film «Zmitzdrin» öffentlich gezeigt. 15 Menschen mit und ohne Behinderung erzählen darin, wie sie sich Inklusion vorstellen, wie sie gelingen könnte. «Inklusion kann man nicht befehlen, sie muss im Herzen wachsen», hält die Katechetin Regula Walther fest. Ihre Tochter Kathrin lebt mit einer Beeinträchtigung, arbeitet auf einem Biohof und sagt im Film, dass sie ihre Talente gerne einbringen würde in der Kirche. «Ich kann gut kochen, singe gern, ich kann auch ein Gebet sprechen.» Es würde ihr viel bedeuten, wenn sie im Gottesdienst ihre Fähigkeiten zeigen könnte.
Sensibilisieren
Mit dem Video und dem dazu gehörenden Lehrmittel sollen Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene in Kirchen für das Thema Inklusion sensibilisiert werden. Er steht kostenlos zur Verfügung und ist auch in einer Fassung mit Audiodeskription erhältlich. Das Publikum war fasziniert vom Einblick in das Leben von Menschen mit verschiedenen Behinderungen applaudierte den anwesenden Protagonisten begeistert.
Gedanken zum Schluss
Während der Podiumsdiskussion zum Schluss der Tagung fassten Workshop-Leitende zusammen, was ihnen wichtig ist. Marcel Mettler, Geschäftsführer der CISA (Christl. Institutionen der sozialen Arbeit) erlebt: «Jesus begegnet mir im Nächsten. Wenn ich mein Herz für ihn öffne, werde ich beschenkt.» Menschen mit psychischer Beeinträchtigung seien die grösste Gruppe der IV-Bezüger. Er setzt sich dafür ein, dass für sie gemischte WGs entstehen, wo sie mit nicht Betroffenen zusammenleben können.
Oliver Merz, Leiter des Instituts Inklus!v ist durch die grosse Teilnehmerzahl ermutigt, sich weiterhin fürs Thema einzusetzen und sich gegen einseitige Heillehren stark zu machen.
Martina Koeninger, Leiterin des Arbeitskreises «Perspektivenforum Behinderung» der Evangelischen Allianz Deutschland, stellte klar: «Hilfe anzunehmen heisst nicht, schwach zu sein. Sich ans Kreuz schlagen zu lassen, war die grösste Stärke – damit wurde der Tod besiegt.» Simone Leuenberger doppelte nach: «Werden Starke stark, weil es Schwache gibt? Behinderte müssen oft von Anfang an kämpfen – sind sie schwach? Wenn so die vermeintlich Starken schwach sind, sind wir wieder gemeinsam im Boot.»
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Datum: 06.06.2024
Autor:
Mirjam Fisch-Köhler
Quelle:
Livenet