Unterschätzte Einschätzung

Warum Mittelmässigkeit besser ist als ihr Ruf

Eine nachdenkliche Frau in der Natur
Darf man für Gott weniger als das absolut Beste abliefern? Fragen wie diese führen in der Regel nicht zu besseren Ergebnissen, sondern zu höherer Belastung. Könnte eine gesunde Mittelmässigkeit dem begegnen?

Es gibt Begriffe, die einfach einen schlechten Ruf haben: Mathe-Klausur, Steuererklärung, Fusspilz, Mittelmässigkeit… Dabei hat Letztere viel mehr Positives zu bieten, als es zuerst scheint. Kann das funktionieren? Die Chicagoer Willow-Creek-Gemeinde betonte über Jahre hinweg mit ihrem Motto «Leiten mit Leidenschaft und Exzellenz», dass für Gott das Beste gerade gut genug sei.

Das hört sich gut an. Und gibt es nicht im letzten Buch der Bibel das Urteil von Jesus selbst über Mittelmässigkeit: «Aber du bist lau, und deshalb werde ich dich ausspucken.» (Offenbarung, Kapitel 3, Vers 16) Kann es ein eindrücklicheres Bild gegen Mittelmässigkeit geben? Trotzdem liegt in Mittelmässigkeit auch ein gewisser Segen. Die folgenden Gedanken und Persönlichkeiten sollen das unterstreichen.

Die Kennedy-Katastrophe

Joseph Patrick Kennedy war der Sohn irischer Einwanderer in die USA. Mit Cleverness, Ellbogenmentalität und zwielichtigen Geschäften wurde er zum Millionär. Aber er wollte mehr. Er wollte eine Familie gründen, deren Name für Erfolg stand, und das hat er weitgehend geschafft. Mit seiner Frau Rose hatte er neun Kinder – unter anderem die bekannten Politiker John F. Kennedy, Robert Kennedy und Edward «Teddy» Kennedy.

Ihre Tochter Rosemary ist dagegen weitgehend unbekannt. Kein Wunder, sie passte auch nicht ins Bild. Schon ihre Geburt war schwierig. Die Hebamme verzögerte die Entbindung, weil der Arzt noch nicht da war. Möglicherweise bekam sie dadurch nicht genug Sauerstoff. Rosemary war langsamer als ihre Geschwister – erschreckend mittelmässig. Ihren Eltern galt sie als behindert, obwohl nicht klar ist, ob sie das tatsächlich war. Denn bei den Kennedys war alles auf Höchstleistung ausgerichtet:

  • Täglich wurde das Gewicht der Kinder kontrolliert. Sie sollten weder verhungert noch dicklich aussehen – Image war alles.
  • Während der Essenszeiten gab es regelmässig Wettbewerbe: Wer wusste am meisten?
  • Und immer wieder ging es darum, sich im Sport auszuzeichnen und Medaillen und Pokale heimzubringen.

Diesen Ansprüchen konnte Rosemary nie genügen. Sie wurde zunächst in diversen Klosterschulen «geparkt», aber als sie sich zu einer lebenslustigen Frau entwickelte, bekam ihr Vater Angst. Eine mittelmässige Tochter war schlimm genug, aber was wäre, wenn sie als Katholikin plötzlich schwanger werden würde? So entschloss er sich, ihr die Triebhaftigkeit zu nehmen, die sie in seinen Augen hatte, und liess bei ihr eine Lobotomie durchführen – bei dieser OP wurden bei vollem Bewusstsein (!) grossflächig Nervenbahnen im Gehirn durchtrennt.

Rosemary war damals 23. Nach der OP konnte sie nicht mehr laufen, nicht mehr sprechen und brauchte wieder Windeln. Sie war schwerstbehindert und lebte die nächsten 63 Jahre versteckt hinter verschlossenen Türen in diversen Anstalten. Denn noch mehr als ihre Mittelmässigkeit hätte ihre Behinderung der politischen Karriere der Kennedy-Söhne schaden können.

Das Hamsterrad der Erwartungen

Leider ist dieses extreme Beispiel von seinen katastrophalen Auswirkungen her keine Ausnahme. Völlige Übererwartungen, die Menschen nicht erfüllen können, führen immer wieder zu Problemen. Das wird auch nicht besser, wenn es in einem christlichen Umfeld um sogenannte biblische Erwartungen geht. Das reicht von:

  • «Wieso kannst du das nicht? Dein Bruder/deine Kollegin bekommt das doch auch hin.

bis hin zu…

  • «Wenn du Gott wirklich vertraust, dann wird er dich in mächtiger Weise gebrauchen / wird diese Gemeinde wachsen / wirst du gesund…»

Wer versucht, aus diesem Hamsterrad der Erwartungen auszusteigen, fühlt sich dabei in der Regel nicht gut. Sagt nicht sogar Jesus in der Bibel: «Ich aber bringe Leben – und dies im Überfluss»? (Johannes, Kapitel 10, Vers 10) Tatsächlich hat er nicht übertrieben, doch zu diesem Vers und dem ganzen Paket an hohen Erwartungen gibt es zwei Schlüssel:

  • Jesus ist derjenige, der für die Fülle zuständig ist, nicht ich als Einzelner.
  • Wir als Gemeinschaft sind diejenigen, die diese Fülle empfangen, nicht ich als Einzelner.

Offensichtlich muss ich als einzelne Person gar nicht in jedem Bereich meines Lebens Höchstleistungen vollbringen.

Die Gauss-Garantie

Der Mathematiker Carl Friedrich Gauss beschrieb die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen in einer sogenannten Glockenkurve. Diese zeigt eindrücklich, warum bei uns so wenige Nobelpreisträgerinnen oder Goldmedaillengewinner sitzen und gleichzeitig so wenige, die ihren Hauptschulabschluss nicht geschafft haben: Weil sich die meisten von uns leistungsmässig im Mittelfeld bewegen, unter dieser grossen Glocke. Zweidrittel aller Menschen haben einen IQ zwischen 85 und 115. Das macht niemanden zum besseren oder schlechteren Menschen – es ist einfach eine gausssche Normalverteilung. Für die Frage der Mittelmässigkeit bedeutet dies:

  • Dass sich in einer Gruppe die meisten Menschen von ihren Fähigkeiten her im Mittelfeld bewegen, ist absolut normal.
  • Alles andere wäre nur «gefühlte Wirklichkeit» – sowohl «ich kann alles» als auch «ich kann nichts».
  • Gleichzeitig sind unsere Gaben dabei unterschiedlich verteilt – niemand kann alles gut oder alles schlecht.

Die Moritz-Mittelmässigkeit

Rainer Moritz ist Autor, Literaturkritiker und Philosoph. 2015 schrieb er das Buch: «Schnauze voll! Schluss mit dem Optimierungsquatsch». Acht Jahre später liest sich vieles darin sehr nett. Ein bisschen wie: Ja, stimmt, so hat das alles mal angefangen… In erster Linie geht es im Buch nicht um Details wie Pulsuhren, die unsere Schritte zählen und die Schlafqualität tracken. Einiges dabei ist sinnvoll. Problematisch wird es, wenn wir probieren, uns mit hohem technischem Aufwand auf den Punkt selbst zu optimieren. Alle, die daran verdienen, reden uns ein: «Nur noch diese App, dieses Gadget, dieses Gerät, dann funktioniert alles wie von selbst und du gehörst von da an zu den Top-Leuten…»

Gauss würde zusammen mit Jesus den Kopf schütteln. Denn die Wahrheit ist doch, dass die meisten von uns ein mittelmässiges Leben ohne extreme Erfolge führen – und das ist gar nichts Schlechtes. Rainer Moritz erklärt in einem Interview: «Was mir in den letzten Jahren aufgefallen ist, ist ein flächendeckender Versuch, uns selbst zu optimieren, sozusagen auch gar nicht mehr mit sich zurechtzukommen, sondern immer wieder auch die neuen technischen Möglichkeiten zu nutzen, wenn wir an Smartphones und ähnliche Apps denken, uns immer selber weiter zu perfektionieren…

Da ist beispielsweise der Schönheitskult, da ist der Biokult, ich glaube, es gibt eine ganze Fülle von Elementen, wo die Menschen mittlerweile glauben, wir wollen nicht mehr die Gesellschaft verändern – da hat man das Gefühl, wir sind froh, wenn wir uns durchwurschteln können –, sondern wir wollen uns selbst verbessern. Das letzte Ziel ist das eigene Ich. Und das setzt die Menschen – das ist eine Grundthese meines Buches – so sehr unter Druck, dass sie am Schluss elender dastehen als zuvor.»

Das Fazit von Moritz klingt ein bisschen nach dem, was Paulus im Römerbrief dazu schreibt, wie er seine Verstrickung in die damalige Welt wahrnimmt. Da klagt er: «Ich unglückseliger Mensch! Wer wird mich jemals aus dieser tödlichen Gefangenschaft befreien?» (Römer, Kapitel 7, Vers 24) Als Antwort klingt es schon an, dass Gott genau diese Erlösung bewirkt, doch das Eingeständnis, dass ich doch nicht der grosse Zampano bin, sondern nur Mittelmass, zweite Wahl sozusagen, ist tatsächlich nicht die ganze Wahrheit. Trotz aller Mittelmässigkeit gehört noch viel mehr zum Selbstbild: Würde, Berufung, Geliebt-Sein, Einzigartigkeit.

Die Tauben-Theologie

An dieser Stelle wird es höchste Zeit, Gottes Perspektive stärker mit hineinzunehmen: Das erste Weihnachten ist bald 30 Jahre her. Jesus hat bis jetzt ein völlig normales Leben als Handwerker geführt. Aber nun ruft Johannes der Täufer die Menschen zur Umkehr auf, und als Jesus sich von ihm taufen lässt, geschieht etwas Besonderes. Gott zieht den himmlischen Vorhang zur Seite und teilt seine Meinung mit: «Während er betete, öffnete sich der Himmel, und der Heilige Geist kam wie eine Taube sichtbar auf ihn herab. Gleichzeitig sprach eine Stimme vom Himmel: «Du bist mein geliebter Sohn, über den ich mich von Herzen freue.» (Lukas, Kapitel 3, Vers 21-22)

Okay: Gott liebt Jesus – der ist aber alles andere als mittelmässig. Doch das ist erst der Anfang vieler Aussagen, die zeigen: Gott liebt auch uns. Sie und ich, wir werden in der Bibel als geliebte Kinder bezeichnet: «Seht doch, wie sehr uns der Vater geliebt hat! Seine Liebe ist so gross, dass er uns seine Kinder nennt – und wir sind es wirklich!» (1. Johannes, Kapitel 3, Vers 1)

Stellen Sie sich das einmal vor. Genau jetzt öffnet sich über Ihnen der Himmel und Gott sagt Ihnen und allen anderen um Sie herum: «Du bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter, an dir habe ich Freude.» – Sorry, Gott, da muss ein Missverständnis vorliegen. Ich bin nicht die Überfliegerin. Ich hab da so meine Probleme. Ich bin bestenfalls mittelmässig… «Ach, das…», winkt Gott ab. «Was denkst du denn, wer dich so gemacht hat, wie du bist? Ich sehe doch nicht zuerst deine Leistung – ich sehe dich.» Mit Mittelmässigkeit will Gott sich nicht abgeben? Wie falsch ist das denn…

Das Paulus-Prinzip

Der Apostel Paulus unterstreicht und erweitert diesen Gedanken noch. Er wirft einen Blick in die Gemeinde damals und stellt fest: «Schaut euch doch selbst an, liebe Brüder und Schwestern! Sind unter euch, die Gott berufen hat, wirklich viele, die man als gebildet und einflussreich bezeichnen könnte oder die aus einer vornehmen Familie stammen? Nein, denn Gott hat sich die aus menschlicher Sicht Törichten ausgesucht, um so die Klugen zu beschämen. Gott nahm sich der Schwachen dieser Welt an, um die Starken zu demütigen.» (1. Korinther, Kapitel 1, Vers 26-27) – Heisst das, dass man ein bisschen dumm sein muss, um in einer Gemeinde sein Zuhause zu finden? Natürlich nicht! Es heisst nur, dass weder Reichtum noch Wissen noch Schönheit noch gesellschaftliche Anerkennung hier besonders wichtig sein sollten.

Ganz klar: Gemeinde punktet damit, dass Menschen hier normal sein dürfen, mittelmässig, auch wenn es alles andere als mittelmässig ist, wenn Mitglieder und Gäste von Gemeinde gemeinsam erkennen, dass Gott sie scheinbar liebt. Scheinbar hat Jesus bereits seine erste Mannschaft völlig falsch zusammengestellt. Er hat nicht die gewählt, die immer als erste auf dem Pausenhof gewählt wurden, wenn es darum ging, die Meisterschaft zu gewinnen, sondern querbeet alle. Das Coole bis heute ist: Er gewinnt mit dieser Mannschaft. Er gewinnt nicht bei Klugheit und Co, obwohl es ein paar superclevere Christen gibt, sondern bei Themen wie Liebe und Barmherzigkeit.

Der Segen der Mittelmässigkeit lautet: «Du bist besonders. Vielleicht nicht besonders sportlich, clever oder reich. Aber auf jeden Fall besonders geliebt. Und dafür musst du dich nicht anstrengen.»

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Datum: 25.05.2023
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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