Freikirchen erinnern an Geiseln in Palästina
Heute sind 137 Tage seit dem tödlichen Massaker vom 7. Oktober 2023 vergangen. An diesem Tag wurden 1'200 Menschen im schlimmsten Pogrom gegen das jüdische Volk nach der Shoah brutal ermordet. Doch für viele hält der Schrecken des 7. Oktobers an, denn mehr als 130 unschuldige Geiseln, von denen einige bereits tot sind, werden im Gazastreifen weiterhin gefangen gehalten.
Der Dachverband Freikirchen.ch fordert die sofortige Freilassung der verbleibenden Geiseln in Gaza. Die Geiseln sind zwar in den Medien weitgehend vergessen, nicht aber in den Herzen ihrer Angehörigen und derer, die sich um das Leben Unschuldiger sorgen. Für Peter Schneeberger als Präsident des Dachverbands Freikirchen.ch ist klar: «Wer Israel liebt, wünscht auch der palästinensischen Bevölkerung Gutes, wer die palästinensische Bevölkerung liebt, wünscht auch Israel Gutes. Frieden wird nur dann möglich sein, wenn beide Seiten eine Zukunft haben.»
«Israel fühlt sich extrem in Stich gelassen»
Marco Hofmann, Präsident der Schweizerischen Pfingstmission und Vorstandsmitglied im Dachverband Freikirchen.ch, war Anfang Februar eine Woche in Israel. Die Reise wurde von der Internationalen Christlichen Botschaft in Jerusalem (ICEJ) organisiert. Im Interview erläutert er die aktuelle Situation und fokussiert sich vorwiegend auf die Situation auf der israelischen Seite.
Als Dachverband Freikirchen.ch verurteilen Sie jede Form von Terrorismus und Gewalt sowie jede Form von Antisemitismus. Welche Situation haben Sie in Israel angetroffen?
Marco Hofmann: Ich habe die Situation in Israel als äusserst bedrückend erlebt. Alle im Land sind vom 7. Oktober betroffen. Ich habe das persönlich gespürt und gehört, dass alle jederzeit mit neuen Anschlägen rechnen. Ich habe mir vorgestellt, was so etwas in der Schweiz ausgelöst hätte. Wie hätten wir reagiert, wenn bei uns ein derartiges Massaker stattgefunden hätte? Wir wären in Schockstarre und würden uns dann wehren und alles dafür tun, dass so etwas nicht wieder geschieht. Die Bevölkerung in Israel lebt nicht erst seit dem 7. Oktober mit dieser Bedrohung. Dieser Tag hat jedoch mit seiner bestialischen Gewalt eine Barriere durchbrochen, die vorher noch niemand erlebt hat. Das Volk wurde sich bewusst, dass es ausgelöscht werden soll, nur weil sie Juden sind. Das spürt man in jeder Diskussion.
Wie ist die Stimmung in Israel?
Mein subjektives Erlebnis ist zweigeteilt: Die einen sind traumatisiert und hoffnungslos. Die anderen, und das überwiegt, zeigen entschlossenes Zusammenstehen, um sich zu wehren. Vor dem 7. Oktober war Israel praktisch komplett auseinanderdividiert. Jetzt scheint das Land wieder geeint. Es gibt ein kollektives Bewusstsein: Wenn wir uns nicht wehren, werden wir ausgelöscht. Viele Zivilisten haben sich selbst bewaffnet. Ich habe überall bewaffnete Zivilisten gesehen, auch sehr junge oder alte Leute. Die Menschen in Israel fühlen sich extrem im Stich gelassen – speziell von der Weltgemeinschaft. Sie fühlen sich verurteilt. Die Israelis erhalten zwar Aufmunterung, weil sie angegriffen wurden. Dann kommt sofort das Aber. Die Israelis seien auf eine Art selbst Schuld für den Angriff. Doch diese bestialische Gewalt an Kindern, Frauen und Männern, überhaupt an friedlich lebenden Zivilisten, ist abscheulich. Diese Gewalt lässt sich nicht rechtfertigen. Die Menschen in Israel sind äusserst offen auf uns zugegangen, auch an der Bushaltestelle und im Tram. Sie haben sich bedankt, dass wir gekommen sind, und für unsere Solidarität.
Sie haben auch Familiengehörige von Geiseln getroffen. Wie war die Begegnung?
Wir sprachen mit zwei Müttern von entführten Söhnen. Rachel Goldberg-Polin ist weltweit aktiv, damit ihr Sohn Hersh (23) freikommt. Sie weiss, dass Hersh schwer verletzt ist. Auf einem Video der Terroristen ist er mit einem abgerissenen Arm zu erkennen. Den Mut, die Entschlossenheit und der Wille von Rachel Goldberg, alles zu unternehmen, was möglich ist, hat mich sehr beeindruckt. Dann haben wir auch Shelly getroffen, die Mutter von Omer Shem-Tov (21). Er wurde am Supernova Festival entführt. Die Familie hat keine Nachrichten, wie es ihm geht. Die Mutter hat mir eine Kette übergeben: Auf der einen Seite ist der Davidstern, auf der anderen Seite steht «Bring them home» (dt. Bringt sie nach Hause). Sie bat mich unter Tränen, Omer auf dem Herz zu tragen und für ihn zu beten. Sie ist dankbar dafür, dass Christen für sie beten. Sie wünschten auch, dass wir Fotos machen und sie veröffentlichen, damit die Geiseln nicht aus der Öffentlichkeit verschwinden.
Sie haben auf der Reise das Kibbuz Nir Oz besucht, das nur 1,5 Kilometer von der Grenze zum südlichen Teil des Gazastreifens liegt. Welcher Eindruck ist Ihnen geblieben?
Wir waren zuerst am Gelände des Musikfestivals vorbeigefahren. Ein bisschen weiter stiessen wir auf einen von insgesamt drei Autofriedhöfen. Der Anblick von hunderten von Autos, die beim Massaker vom 7. Oktober beschossen oder angezündet wurden, waren sehr beelendend. Aus jedem dieser Autos wurden Menschen entführt oder ermordet. Teilweise sah man noch persönliche Gegenstände. Das ging sehr nah. Auch die Situation im Kibbuz war äusserst beklemmend. Ich bin den Personen, die dort gelebt haben, sehr nahegekommen. Es war einerseits eine kleine Oase mit idyllischen Gärten und Fruchtbäumen. Die Bewohner lebten wie alte Hippies kommunenmässig friedlich zusammen. Da gab es einige Friedensaktivisten. Sie wurden schon mehrmals von Raketen angegriffen, aber der 7. Oktober hat sie völlig überrascht. Bei diesem Angriff hatten sie keine Chance. Aus diesem Kibbuz wurden 71 Geiseln verschleppt, womit dieser Ort die höchste Zahl zu beklagen hat. Wir sahen noch den Rollator einer gehbehinderten Oma, die zusammen mit Kleinkindern entführt wurde. Als ich in den Raum mit einem Kinderbett und einem halbverbrannten Stoffpferd kam, blieb mir fast das Herz stehen. Das war einfach nur furchtbar! Da fehlen mir die Worte. Ebenso traurig stimmte mich, als wir dann über den Zaun in den Gazastreifen blickten. Hinter all den zerstörten Häusern stecken auch ganz viele Schicksale. War der 7. Oktober es wert, das alles auszulösen?
Haben Sie kriegerische Handlungen am eigenen Leibe erfahren?
Im Kibbuz Nir Oz haben wir das Artilleriefeuer der israelischen Armee immer wieder wahrgenommen. Ich bin im Thurgau aufgewachsen und die Geräusche der Artillerie vom Waffenplatz Frauenfeld gewohnt. Teilweise wurde es sehr laut und wir sahen Rauchwolken. Manchmal war es sehr nahe, manchmal weit weg. Im 15-Minuten-Takt wurde geschossen. Unterwegs sahen wir überall Artilleriepanzer eingegraben oder versteckte Panzerkompanien, die in Wäldern in Bereitschaft standen. Auch Helikopter und Drohnen haben wir wahrgenommen.
Hatten Sie persönlich Angst vor Ort?
Die Situation war teilweise surreal. Manchmal kam mir der Gedanke, dass ich jetzt Angst haben müsste, weil in der Nähe scharf geschossen wurde. Im Süden hatte ich keine Angst. Etwas Bange wurde es mir aber im Norden, als wir in Ma'alot sechs Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt waren. Dort wurden neue Bunker eingeweiht, welche die Internationale Christliche Botschaft in Jerusalem finanziert hat. Die Leute vor Ort waren angespannter und nervöser als im Süden. Die Situation dort ist viel bedrohlicher; die Hisbollah ist bis auf die Zähne bewaffnet. Man rechnet jederzeit mit einem grösserem Angriff. Wir haben nicht alle Orte besuchen können, die geplant waren. Wir wurden immer wieder umgeleitet. Das hinterliess ein mulmiges Gefühl.
Der Tourismus in Israel ist komplett eingebrochen. Was haben Sie beim Rundgang in Jerusalem mitbekommen?
Ich war im Frühling letztes Jahr schon in Israel, wo ich eine Pastorenreise geleitet habe. Die Situation war völlig anders: Vorher das Gedränge der Leute in den Gassen. Die Sehenswürdigkeiten waren voll belegt, man kam fast nicht hinein. Jetzt war die Stadt wie verlassen mit komplett leeren Gassen. Es waren keine Cars vor Ort. Im Bazar waren die meisten Lädeli geschlossen. Die Verkäufer liefen den wenigen Kunden nach. Es war gespenstisch. Auf der anderen Seite war es einzigartig schön. Die Stimmung am Abend war berührend, so still und menschenleer. Das war ein starkes Erlebnis. An der Klagemauer waren am Tag nur wenige am Beten, vor allem Frauen. Unterwegs sind mir viele betende Menschen aufgefallen, an Ecken, Plätzen und Bushaltestellen. Sie hatten immer ein Gebetsbuch dabei. Man spürt die Sehnsucht nach Normalität.
Jerusalem lebt die friedliche Koexistenz von Muslimen, Juden und Christen vor. Wäre das eine Vision für das ganze Land zwischen dem Jordan und dem Meer?
In Jerusalem merkt man, dass sie miteinander leben müssen. Die meisten möchten friedlich zusammenleben, ihren Lebensunterhalt verdienen und ein schönes Leben haben. Was wäre die Lösung für den Nahostkonflikt? Terror, Hass und Ausgrenzung ist definitiv der falsche Weg. Es scheint für mich unlösbar. In den biblischen Perspektiven finde ich Halt: Gott hat es immer noch in der Hand, auch wenn ich es nicht verstehe. Israel ist nach wie vor das Volk Gottes. Der Friedefürst Jesus möchte allen Menschen Frieden bringen. Aber ich will nicht nur darauf warten. Als Christ will ich dem Wort von Jesus aus der Seligpreisung folgen: «Selig sind die Friedensstifter» (Matthäus Kapitel 5, Vers 9). Ich setze mich dafür ein, dass in den Familien, im Bekanntenkreis, an der Arbeit, wo auch immer, dies gelebt wird und wir dafür beten, dass Israel Frieden findet.
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Datum: 20.02.2024
Autor:
Markus Baumgartner
Quelle:
Freikirchen.ch