«Wo jetzt Zerstörung ist, kann Gott etwas Gutes machen»
Joe, was ist den letzten Tagen im Libanon passiert, kannst du es mit deinen Worten ausdrücken?
Joe Frei (Name geändert): Schon seit Oktober letzten Jahres hat die vom Iran unterstützte Hizbullah-Miliz mit Hilfe der Hamas tausende Raketen auf den Norden Israels abgefeuert und damit mehr als 60’000 lokale Israelis von dort vertrieben. Israel hat es sich zum Kriegsziel erklärt, den Vertriebenen die Rückkehr zu ermöglichen. Mit der Explosion tausender Pager von Hizbullah-Kämpfern am 17. September begann ein verstärkter Fokus militärischer Aktionen gegen die Hizbullah – mit zunehmendem Bombardement gegen Hizbullah-Kommandeure und Gebäude des Hizbullah. Neben dem Bombardement kam es auch zu Evakuierungsaufrufen der israelischen Armee – sie warnen die Zivilisten, ihren Wohnort zu verlassen.
Was sind die Konsequenzen davon?
Im Libanon sind momentan mehr als eine Million Menschen auf der Flucht. Sie sind vom Süden des Landes Richtung Norden geflohen, viele suchen Zuflucht in der Hauptstadt Beirut. Um die 200’000 Personen sind bis jetzt nach Syrien geflüchtet. Das sagt schon viel, denn Syrien selbst ist ein Kriegsland, indem ein Grossteil der Bevölkerung durch den Bürgerkrieg, die schlechte Wirtschaftslage und zusätzlichen Katastrophen wie dem Erdbeben vor anderthalb Jahren auf Hilfe von aussen angewiesen sind. Dem Libanon ging es in den letzten Jahren ebenfalls nicht gut. Das Land hat viele Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen und es leidet seit Jahren unter einer Inflation. Was mich besonders bewegt: Viele dieser Menschen haben Kriegserfahrung und Traumata. Die Libanesen können sich gut an 2006 erinnern, als es das letzte Mal zu Kämpfen zwischen der Hizbullah-Miliz und Israel kam. Die syrischen Flüchtlinge haben Krieg in ihrem Heimatland miterlebt. Sie sind also in ihrer Angst wieder getriggert und alte Erinnerungen kommen hoch. Weil es so viele Flüchtende sind, schlafen sie zum Teil auf der Strasse. Angst und Ungewissheit herrscht bei vielen Betroffenen vor.
Du koordinierst Hilfsprojekte, auch für Flüchtlinge. Helft ihr als HMK schon vor Ort?
Wir als HMK haben langjährige Kontakte im Libanon, die in der aktuellen Notlage schnell aktiv geworden sind. Jetzt, wo es eine weitere humanitäre Krise in diesem kleinen Land gibt, sind wir dabei, unsere Partner vor Ort in ihrer wertvollen Arbeit zu unterstützen.
Wer sind diese Partner, mit denen ihr zusammenarbeitet?
Das sind einheimische Christen, die sich für ihre Mitmenschen einsetzen möchten. Sie sehen das Leid und wollen helfen. Einige sind Pastoren und Kirchgemeinden, andere sind Gruppen mit Erfahrung in karitativer Hilfe. Einige Gemeinden bestehen zu einem grossen Teil aus syrischen Flüchtlingen. Sie sind aus Syrien vor mehreren Jahren vor dem Krieg geflohen, um im Libanon Schutz zu finden und werden nun wieder von Krieg eingeholt.
Wie genau sieht die Hilfe aus?
Sie nehmen Flüchtlinge auf und versorgen sie mit Mahlzeiten. Jetzt am Anfang geht es um das Nötigste: ein Dach über dem Kopf, einen Teller vor sich. Viele Flüchtlinge haben überstürzt ihr Zuhause verlassen: Sie haben nur ihre Kleider dabei, die sie gerade tragen. Wer zum Beispiel chronisch krank und auf Medikamente angewiesen ist, für den müssen in kurzer Zeit Arzneien aufgetrieben werden. All das leisten momentan unsere Partner. Es wird offen kommuniziert, dass die Hilfe von Christen kommt und in dieser Zeit der Unruhe suchen viele Trost. Gerne beten unsere Partner mit ihnen und führen seelsorgerliche Gespräche. Eine Gemeinde hat zuerst die Flüchtlinge in ihrem Kirchengebäude beherbergt, bis die Polizei das untersagt hat. Daraufhin haben alle Gemeindemitglieder ihre Wohnungen für die Flüchtenden geöffnet.
Macht dich die Situation noch selbst betroffen, oder bist du mittlerweile abgehärtet?
Das Leid zu sehen, macht mich betroffen, keine Frage. Obwohl man in den Medien viele Zahlen hört, ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass hinter den Zahlen Menschen stehen, die von Gott geliebt werden. Es ist traurig mitanzusehen, wie diese von Gott geliebten Menschen auf allen Seiten des Konflikts leiden, hoffen, bangen. Das bekümmert mich. Ich bin aber dankbar, dass ich meine Betroffenheit bei Gott abladen kann.
Was beeindruckt dich persönlich an der Arbeit eurer Partner?
Ich bin sehr dankbar, dass es Menschen wie sie gibt, die sich trotz aller Hindernisse für ihr Umfeld einsetzen. Viele von ihnen machen das auch langfristig – das braucht viel Kraft und Ausdauer. Ich staune immer wieder, wie kreativ sie werden. Wenn sie einen Friseur im Team haben, dann schneidet er anderen gratis die Haare, wenn sie eine Bäckerin haben, dann werden tagelang Brote gebacken. Sie sind oft Menschen, die selbst Diskriminierung und Verfolgung erleben wegen ihrer Herkunft oder ihres Glaubens. Dass sie genau diesen Menschen helfen, die ihnen in der Vergangenheit geschadet haben, das beeindruckt mich sehr.
In all dem sind sie selbst Betroffene. Sie hören nachts die Bomben mit ihren eigenen Ohren, sehen im Fernsehen Bilder von der Zerstörung. Dennoch lassen sie sich nicht hängen, sondern investieren sich in andere Personen. Sie sind ein Vorbild für mich.
Was denkst du, was als Nächstes passieren wird?
Derzeit eskaliert die Lage zusehends, aber jeder hofft auf ein baldiges Ende. Ich finde es schwierig, die Zukunft vorzusagen und möchte lieber jetzt in der Notlage den Partnern vor Ort bestmöglich beistehen. Klar ist aber, dass mit dem Ende eines Krieges das Leid nicht aufhören wird. Dann beginnt die Aufarbeitung und der Wiederaufbau.
Was ist dein Gebet für den Libanon?
Ich bete für drei Dinge:
Erstens, dass Gott diesen Krieg und die Zerstörung in der gesamten Region, erst Israel, dann der Gaza-Streifen und jetzt im Libanon, für etwas Gutes nutzt. Immer wieder kommen mir die Worte von Josef in den Sinn, die er seinen Brüdern bei ihrer Versöhnung sagt: «Ihr habt etwas Böses gewollt, aber Gott hat daraus etwas Gutes entstehen lassen zur Rettung für viele.» Da, wo jetzt Zerstörung und Leid entstehen, kann Gott etwas Gutes daraus machen.
Zweitens bete ich für unsere Partner und alle Christen auf beiden Seiten, dass sie in dieser dunklen Zeit ein Licht sind für ihre Mitmenschen. Es ist sehr einfach, in diesem Konflikt Feindbilder von Menschen und Kriegsparteien zu erzeugen oder weiter zu verbreiten. Ich weiss aber, dass wir als Christen vor allem auf einer geistlichen Ebene kämpfen – und ich bete, dass die Christen vor Ort sich nicht in den Strudel des Hasses und der Angst hineinziehen lassen, sondern durch Gottes Kraft in diesen Schwierigkeiten voller Liebe und Gottvertrauen feststehen.
Drittens bete ich, dass Gott die Menschen dort aufrichtet – dass durch seine Kraft auf beiden Seiten die Verletzten Heilung erfahren, die Vertriebenen versorgt werden, die Trauernden getröstet und die Mutlosen aufgerichtet werden. Danke, dass Sie mit mir für den Libanon und die gesamte Region beten.
Die HMK (Hilfe für Mensch und Kirche) hilft in rund 60 Ländern verfolgten Christen und notleidenden Menschen – und das seit 1969. Ihre Arbeitsbereiche sind: Hilfe für diskriminierte Kirchen, Hilfe für Gemeinden und Kirchen, humanitäre Hilfe sowie Menschenrechte und Religionsfreiheit. Das tut sie nach dem Motto «Glauben, Hoffen, Handeln» für eine ganzheitliche und nachhaltige Hilfe vor Ort. Dafür arbeitet sie auf Augenhöhe mit einheimischen Partnern.
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Datum: 10.10.2024
Autor:
Miriam Grün
Quelle:
HMK Schweiz