Das Parlament: «Frömmer» als die Bevölkerung?
Die Zeitungsredaktionen nannten es damals einen «historischen Wendepunkt»: Am 26. Januar 2024 veröffentlichte das Bundesamt für Statistik (BFS) seine neue jährliche Religionsstatistik – mit der Meldung, dass Menschen, die sich zu keiner Kirche zählen, erstmals die grösste Gruppe der Bevölkerung bilden. 34 Prozent der Schweizer Bevölkerung gehören keiner Religionsgemeinschaft mehr an. Vor 50 Jahren betrug dieser Anteil lediglich ein Prozent.
Die frohe Botschaft
«Seitdem die Kirchen vom BFS diese Hiobsbotschaft erhalten haben, ist ein halbes Jahr vergangen», erklären die Tamedia-Zeitungen. «Doch jetzt kommt für sie eine neue frohere Botschaft: Es gibt ihn noch, den Ort, wo die Kirchenmitglieder eine Macht sind. Das Bundeshaus.» Der Grund: Drei Viertel der 246 Parlamentarier sind Kirchenmitglieder – im Vergleich zu nur 58 Prozent der Gesamtbevölkerung. 40 Prozent unserer Volksvertreter sind katholisch, knapp 32 Prozent reformiert und 3 Prozent freikirchlich.
2017 hatten sich in einer ähnlichen Untersuchung der NZZ nur 12,5 Prozent der Parlamentarier als konfessionslos bezeichnet; heute sind es doppelt so viel – aber im Vergleich zur Bevölkerung ist das Parlament immer noch deutlich mehr konfessionell gebunden.
Eine «Bastion gegen die Säkularisierung»?
Was sind die Gründe für diesen eklatanten Unterschied? Der Berner Soziologe Adrian Vatter, auf dessen aktualisiertes Buch «Das politische System der Schweiz» sich die Presseberichte berufen, erklärt: «Das Parlament war noch nie ein Mikrokosmos der Bevölkerung.» Es sei eher eine gesellschaftliche Elite, die sich finanziell, kulturell und eben auch religiös-konservativ von der Masse abhebe.
Nationalrat Marc Jost (EVP) ergänzt mit einer positiven Erklärung: Religiöse Menschen engagierten sich laut Studien eher gesellschaftlich als nicht religiöse. Allerdings, so Jost, sei im Parlament die Religion jedoch nur selten ein Thema: «Nur eine Minderheit der Parlamentsmitglieder praktiziert intensiv und redet vielleicht auch einmal über Glaubensfragen.»
Die kirchliche Bindung der Parlamentarier ist also nicht ein Zeichen für «christlicheres» Politisieren. Viele Parlamentarier sind kaum praktizierende Christen. «Ich bin auf dem Papier katholisch, aber im Herzen konfessionslos», zitieren die Zeitungen SP-Nationalrätin Céline Widmer. GLP-Nationalrat Beat Flach erklärt sich als «radikaler Agnostiker», ist aber trotzdem Mitglied der reformierten Kirche. Der Grund: Die Kirchen seien gemeinnützig tätig, und das unterstütze er gerne mit seiner Kirchensteuer. «Wenn der Staat diese Leistungen mit bezahlter Arbeit erbringen würde, wäre das viel teurer.»
Wenig direkte Religion im Parlament
Religion im parlamentarischen Alltag kommt denn auch kaum vor – abgesehen einmal vom religiösen Amtseid, den viele Parlamentarier ablegen; zum anderen werden die «Besinnungen unter der Bundeskuppel» jeweils am Mittwochmorgen erwähnt, an denen nach Angaben von Marc Jost regelmässig zehn bis zwanzig Parlamentarier teilnehmen. Schliesslich gebe es noch die parlamentarische Gruppe Christ und Politik, der 13 Nationalratsmitglieder aus fünf Parteien angehören. Nach Co-Präsident und FDP-Nationalrat Laurent Wehrli verfolge die Gruppe keine parteipolitischen Absichten; die Treffen seien eher «ein persönlicher Moment des Innehaltens und Teilens gemeinsamer Werte».
Einfluss auf Politik?
Der hohe Anteil von Kirchenmitgliedern hat nach Angaben der meisten befragten Parlamentarier keinen Einfluss auf politische Entscheide. Kirchenpolitische Fragen würden in der Regel sowieso nicht auf Bundesebene verhandelt, auch das Verhältnis von Kirche und Staat einschliesslich der Kirchensteuern werde auf kantonaler Ebene definiert.
Dennoch würden auch auf nationaler Ebene «Entscheide mit religiösem Bezug» gefällt, wird Sonja Stocker zitiert, Co-Präsidentin der Freidenker-Vereinigung. Sie nennt etwa das Blasphemieverbot und die Tatsache, dass es ausschliesslich religiöse Armeeseelsorge gibt. Entgegen ihrer Befürchtung, dass das Parlament wegen der «religiösen Prägung» konservativer entscheide als die Bevölkerung, hält SP-Nationalrat Fabian Molina (konfessionslos) fest: «Man spürt im Parlament nur selten, dass jemand anders entscheidet, weil er religiös ist» – selbst wenn im Ständerat heute noch 56 Prozent der Mitglieder katholisch sind.
EVP-Nationalrat Marc Jost ist denn auch überzeugt, dass das Parlament keine Entscheide fällt, die den nicht religiösen Teil der Bevölkerung diskriminieren. Er weist auf die – wenig bekannte – Tatsache hin, dass die Entwicklung der Menschenrechte in Europa nicht zuletzt auf den Einfluss des Christentums zurückzuführen sei. Jost: «Gerade darum sollte ein Parlamentarier, der sich als Christ versteht, keine religiösen Partikularinteressen vertreten, sondern das Gemeinwohl und auch den Schutz andersgläubiger Minderheiten besonders im Blick haben.»
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