«Wer die einen verfolgt, wird die anderen nicht verschonen»
Eine Nobelpreisträgerin trifft man nun wirklich nicht alle Tage. Anfang Dezember hatte ich diese besondere Gelegenheit. Anlass war ein Kongress für Menschenrechte im Deutschen Bundestag, an dem ich teilnahm. Zu den Vortragenden gehörte Irina Scherbakowa. Sie ist Gründungsmitglied von «Memorial», der «internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge». «Memorial» wurde 1988 als erste Menschenrechtsorganisation in der Sowjetunion gegründet, hatte bis zu ihrem Verbot im Jahr 2021 ihren Sitz in Moskau – und bekam im Jahr darauf den Friedensnobelpreis.
«Wer Frieden möchte, der muss genau beobachten, ob in einem Staat die Menschenrechte gewährt werden. Wer die Menschen im eigenen Land verfolgt, der wird auch vor den Grenzen der Nachbarländer nicht Halt machen. Jeder, der genau hingesehen hat, hätte lange wissen können, dass Putin die Ukraine angreifen wird.» Scherbakowa spricht Klartext. Das beeindruckt mich. Nach ihrem Vortrag spreche ich sie an, und sie erzählt mir sehr offen ihre Geschichte.
Lebensthema
Als Tochter jüdischer Eltern, die viele ihrer Verwandten im Holocaust verloren haben, und den Kommunismus als Antwort auf den Faschismus verstehen, wird Irina Scherbakowa in der Sowjetunion geboren. Sie studiert Geschichte und Germanistik, worin sie auch promoviert. Sie spricht fliessend Deutsch.
Schwerbakowa forscht offiziell vor allem zum Stalinismus, aber es sind die Erzählungen ihrer Grossmutter, die sie motivieren, privat auch Quellen zum Antisemitismus in Russland zu suchen. Das war in der Sowjetunion nicht erlaubt, jüdisches Leben war stark eingeschränkt, die hebräische Sprache verboten. Sie entdeckt gemeinsame Strukturen hinter den Verbrechen, nämlich, dass die Gräueltaten immer im Kleinen beginnen: Wenn Menschen schweigen, weil sie Verleumdungen und Verletzungen von Würde hinnehmen, weil diese ja «im Rahmen» bleiben, der ebnet den Mördern den Weg. Und wer Übergriffe gegen eine Gruppe duldet, der gefährdet auch alle anderen Minderheiten.
Scherbakowa findet ihr Lebensthema, sie wird zu einer aktiven Menschenrechtsverteidigerin. Sie dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und macht sie öffentlich. Dazu gehört auch eine offene Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen. Scherbakowa bleibt eine Linke, bricht aber mit dem Kommunismus, den sie und ihre Mitstreiterinnen bei «Memorial» als autoritäres System entlarven. Auch Menschenrechtsverletzungen unter Wladimir Putin stehen immer wieder im Fokus ihrer Arbeit, akribisch dokumentieren sie die Vorfälle.
Von Russland nach Israel
International und vor allem in Deutschland, wo Scherbakowa häufig Vorträge hält, erfährt ihre Arbeit eine hohe Anerkennung. Ganz anders in ihrer russischen Heimat. Die Behörden stufen «Memorial» 2012 als «ausländischen Agenten» ein und belegen die Organisation mit einer Reihe von Einschränkungen. Die nächsten Jahre werden immer schwieriger. Scherbakowa verurteilt Russlands Annexion der Krim – und warnt schon 2014, dass Putin nicht Halt machen wird, bis die ganze Ukraine zu Russland gehört. Als ihre Befürchtungen sich bewahrheiten und Putin die Ukraine angreift, verlässt sie ihre Heimat.
Als Jüdin geht sie nach Israel. Sie kommt vom Regen in die Traufe: In Israel gibt es Unruhen und Massendemonstrationen gegen Premier Benjamin Netanjahu, das ganze Land ist in Unruhe. Und dann der Schock: die Terrorangriffe der Hamas. Als ich sie danach frage, zittern ihre Mundwinkel. «Niemals hätte ich gedacht, dass ich solche Gräueltaten an Juden jemals miterleben müsste. Ich kannte die Erzählungen meiner Grossmutter und natürlich etliche Dokumente. Aber diese Brutalität hätte ich mir nicht vorstellen können.»
Und doch bleibt sie auch in diesem Moment ihrer Lebensaufgabe treu. «Israel muss sich wehren, das ist völlig klar. Wer Juden schützen will, darf die Hamas nicht gewähren lassen. Aber auch im Kampf gegen die Terroristen müssen wir auf die Menschenrechte achten. Jedes zivile Opfer ist eines zu viel. Und wer die Demokratie verteidigen will, muss sich an das Völkerrecht halten.»
Eine kleine Schlange hat sich gebildet, auch andere wollen mit Irina Scherbakowa sprechen. Wir beenden unser Gespräch.
Ich bin ziemlich beeindruckt. Die Nobelpreisträgerin ist 73 Jahre alt, ihre Menschenrechtsorganisation wurde verboten, ihr düsteren Prognosen bezüglich der Ukraine trafen ein, als Jüdin erlebte sie den Terror der Hamas. Und was macht sie? Statt zu resignieren, engagiert sie sich nur umso mehr – und legt mutig den Finger in die Wunden, wo es nötig ist. Inspirierend, diese Frau.
Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin
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