Wenn Vergebung verweigert wird

Der unbarmherzige Diener

Versöhnung in der Kirche
Wie eine Familie besteht eine Gemeinde aus den Beziehungen vieler verschiedener Menschen. Auch wenn Christus unser gemeinsamer Nenner ist, verletzen wir einander immer wieder. Was wir tun sollen, wenn das passiert, erklärt Jesus in Matthäus 18.

«Ich bin durchaus bereit, mehrmals zu verzeihen, aber irgendwann ist doch genug!?» Petrus wendet sich fragend an Jesus. Gerne würde er einen Riegel vorschieben, wenn sich ein anderer Jünger wiederholt ihm persönlich gegenüber falsch verhält. Sein Vorschlag: Sieben Mal Vergebung gewähren, dann reicht es. Biblisch steht die Zahl für Vollkommenheit, Totalität. Die Formulierung von Petrus Frage zeigt jedoch, dass er sich durchaus eine Art von Begrenzung erhofft: Der wievielte Tropfen bringt das Fass zum Überlaufen?

Den gibt es nicht, sagt Jesus. Und überbietet den Vorschlag seines Jüngers radikal mit einem Zahlenspiel: 490-mal («siebzigmal sieben») soll Petrus die Entschuldigung seines Gegenübers annehmen. Jesus zufolge ist Vergebung unzählbar – immer möglich. Um den Grund dafür zu veranschaulichen, beginnt Jesus zu erzählen: «Deshalb ist das Reich der Himmel zu vergleichen mit...»

Ein König, der masslos vergibt

Wir begegnen dem Herrscher eines Königreichs, der eine Überprüfung seiner Diener ansetzt. Mit dem griechischen «Doulos» (Diener, Sklave oder Knecht) wurden im Alten Vorderen Orient auch königliche Beamte in hoher Stellung bezeichnet. Vermutlich können wir in unserer Geschichte ebenfalls an hohe Staatsdiener denken, die den Besitz des Königs verwalteten.

Bei der Abrechnung kommt dabei ans Licht: Es klafft eine Riesenlücke in der königlichen Kasse. Ob der zuständige Diener die Gelder nicht für ihren bestimmten Zweck verwendete, sondern in seine eigene Tasche verschwinden liess, erfahren wir nicht: Das Warum oder Wie bleibt offen. Auf jeden Fall muss der Diener für 10'000 Talente geradestehen. Im damaligen Palästina unter römischer Herrschaft stellte ein Talent die grösste Gewichtseinheit dar, annähernd 6'000 Denare (römische Silbermünzen). Einem antiken Bericht zufolge beliefen sich im 4. Jahrhundert nach Christus die eingesammelten Steuern um Judäa, Idumäa und Samaria lediglich auf 600 Talente.

Jesus überspitzt also, um deutlich zu machen: Hier steht ein Mensch knietief in der Kreide und es gibt nicht den kleinsten Hauch einer Chance, aus der Sache heil wieder herauszukommen. Der König erteilt den Befehl, den hochverschuldeten Diener mitsamt Familie und Besitz zu verkaufen. Eine bekannte Vorgehensweise, um (einen Teil der) Geldschuld zu begleichen. In unserer Erzählung aberwitzig. Zu Jesu Zeiten waren derartige Herrschaftsverhältnisse die Realität. In den Ohren der Zuhörer klang die Strafe nicht aussergewöhnlich oder anstössig. Unter anderem qua Geburt, Schulden oder Kriegsgefangenschaft konnten Menschen in die Sklaverei geraten.

Der Diener wirft sich vor dem König nieder und fleht um Zeit, damit er die Geldschuld abarbeiten kann. Ein Ding der Unmöglichkeit. Der König öffnet sein Herz für die tiefe Not seines Dieners: Dieser muss nicht eine Münze zurückzahlen und darf als vollkommen freier Mann seines Weges gehen.

Ein Diener, der Vergebung verweigert

Eine überwältigende Flut der Erleichterung muss der Diener empfinden, ist ihm doch eine unglaubliche Last von den Schultern genommen worden. Er verlässt den Verhandlungsraum des Königs – und trifft prompt selbst auf einen, mit dem er noch eine Rechnung offen hat: einen Sundoulos. Jemand, der die gleiche Position vor dem König hat und ihm somit ebenbürtig ist. Der Mitdiener schuldet ihm 100 Denare. Der ehemalige Schuldner ist nun selbst ein Gläubiger.

Durch Drohen und Einschüchtern möchte er sein Geld zurückerhalten: Er packt den Mitdiener am Hals und würgt ihn. Dieser fällt zu seinen Füssen und fleht ihn an: Gerne möchte er alles zurückzahlen, wenn er nur etwas Zeit erhält. Beinahe eins zu eins wiederholt sich (wortwörtlich) die Geste und Bitte um Zeitaufschub. Jetzt eröffnet sich dem Geldleiher die Möglichkeit, ähnlich wie der König zu handeln. Doch der Diener wirft den Verschuldeten ins Gefängnis, bis Münze für Münze zurückgezahlt ist. Angehörige des Mitdieners sollen damit unter Druck gesetzt werden, die erforderlichen Mittel aufzutreiben.

100 Denare sind im Vergleich zu den 10'000 Talenten kaum der Rede wert – und können mit etwas Zeit tatsächlich zurückerstattet werden. Im Licht der ersten Szene zeichnet Jesus durch Gegenüberstellungen ein eindrückliches Bild: Auf der einen Seite ein König, der seinem Diener eine unmöglich wiedergutzumachende Schuld von 10.000 Talenten erlässt. Auf der anderen Seite ein Diener, der gegenüber seinem Mitdiener eine möglich wiedergutzumachende Schuld von 100 Denaren einbehält. Ein «Er erbarmte sich» auf der einen Seite und ein «Er aber wollte nicht» auf der anderen. Das (fehlende) Mitgefühl ist der entscheidende Kontrastpunkt.

Verweigerte Vergebung hat Folgen

Erschüttert, wie einer von ihnen mit einem anderen umgeht, berichten andere Diener ihrem König davon. Dieser bestellt seinen freigesprochenen Diener wieder zu sich und tritt als strafender und zorniger Richter auf: Er wirft den Diener in ein Schuldgefängnis, wo körperliche und psychische Gewaltanwendung nach römischer Regelung droht. Seine Strafe übertrifft nun das Hafturteil des Mitdieners: Seine Hartherzigkeit wird schlimmer verurteilt. Die Perspektive des Angeklagten hören wir nicht. Für sein Verhalten gibt es keine legitime Entschuldigung. Grund für die Strafe und gleichzeitig die Kernaussage des ganzen Gleichnisses formuliert der König als Vorwurf: «Müsstest du da nicht auch mit diesem Diener Mitleid haben, so wie ich Mitleid mit dir hatte?» Hier wird deutlich, wie wenig echte Wertschätzung der zuvor freigesprochene Diener für die Güte des Königs übrighatte!

Dann verlässt Jesus die Erzählebene und wendet sich direkt an seine Zuhörer:

Die einzig richtige Antwort

Auch die Jünger erwartet eine Strafe, wenn sie einander nicht «von Herzen» Vergebung zusprechen. Aber ist die «Pflicht, von Herzen zu vergeben» nicht ein Widerspruch? Und nimmt Gott seine Vergebung wieder zurück, wenn wir nicht vergeben?

Ähnlich wie der Diener vom König, so sind wir Menschen von Gott abhängig. Gottesferne und die daraus folgenden Brüche in den Beziehungen zu Mitmenschen, Natur und uns selbst können wir nicht aus eigener Kraft wieder kitten – Gott verzichtet in Jesus auf Ausgleich und schenkt eine heile Beziehung zu ihm. Am Anfang steht also Gottes Vergebung und wir sind zunächst Empfangende. Das Geschenk erfordert aber eine Weitergabe: Wenn ein Mitchrist sein Fehlverhalten einsieht und um Vergebung bittet, sollen wir sie ihm gewähren. Vergebung untereinander ist die einzig richtige Antwort auf die Vergebung Gottes: Ich kann nicht selbst grosszügig aus der Vergebung Gottes leben und gleichzeitig anderen meine Vergebung verweigern.

Über Hartherzigkeit wird nicht einfach hinweggesehen – hier spielt Jesus wahrscheinlich an das endzeitliche Richten Gottes an. Was konkret unter einer Strafe gemeint ist, lässt sich nur vermuten. Eine Konsequenz wird verweigerte Vergebung jedoch nach sich ziehen. Auch Strafe und Zorn gehören zu Gott – das Gegenteil von Liebe ist nicht Zorn, sondern Gleichgültigkeit: Weil er gut ist und wir ihm wichtig sind, lässt er sich von Unrecht und Lieblosigkeit innerlich berühren.

Das Herz wird von Jesus gemäss alttestamentlich-jüdischer Tradition verstanden – als Zentrum des Menschen, wo Emotionen und Sehnsüchte, aber vor allem Entscheidungen, Verstand und Wille sowie Gedanken ihren Platz haben. Hier ist der Ort der Begegnung mit Gott und der Ort, an dem man sich für das Gute entscheidet. Jesus hat kein Interesse an oberflächlichen, äusserlich-sichtbaren Taten. Er möchte eine persönliche Willensentscheidung, die ein aufrichtiges Interesse an einer wieder funktionierenden Beziehung hat.

Ähnliche Impulse gibt es im Magazin LebensLauf. Infos zum günstigen Jahresabogutschein des Magazins findest du hier.

Zum Thema:
Glaube entdecken: Gott persönlich kennenlernen
Leben als Christ: Verletzt? Vorsicht vor falschen Reaktionen
Der Weg zurück: Kirchliche Verletzungen überwunden

Datum: 26.01.2025
Autor: Lena Scharton
Quelle: Magazin LebensLauf 01/2025, SCM Bundes-Verlag

Werbung
Livenet Service
Werbung