Vergebung führt in die Freiheit
Am Abend des 17. Juni 2015 leitete Myra Thompson eine Bibelstunde in der überwiegend afroamerikanischen «Emanuel African Methodist Episcopal Church» in Charleston, South Carolina. Der junge weisse Dylann Roof erschien ebenfalls und wurde willkommen geheissen. Gegen Ende der Stunde, als die Gemeindemitglieder ihre Köpfe zum Gebet neigten, zog Roof eine Waffe und eröffnete das Feuer.
Myra war eine der neun Menschen, die ums Leben kamen. Ihr Mann Anthony vergab Roof trotz des enormen Verlusts. Diese Botschaft steht im Zentrum seines neuen Buches «Called to Forgive» («Berufen zu vergeben»).
«Steh auf»
Myra war Lehrerin an einer der schlimmsten Schulen in South Carolina gewesen, doch sie konnte den Respekt der Kinder gewinnen; daneben diente sie als Pastorin. Auch an jenem verhängnisvollen Abend, während Anthony anderweitig engagiert war und bereits nach Hause gegangen war.
«Ich erhielt einen Anruf, es hiess, dass es in der Emanuel-Gemeinde eine Schiesserei gegeben hatte. Ich war in fünf Minuten da und hoffte, dass meine Frau nicht in der Nähe gewesen war.» Als er ankam, war das ganze Gebiet abgeriegelt. «Ein Polizist wies mir den Weg zu einem Hotel auf der anderen Strassenseite, in das sie die Überlebenden gebracht hatten. Myra konnte ich nicht finden.»
Dann hörte er, dass Myra gestorben sei. Weinend rannte er nach draussen und fiel in einem Blumenbeet auf die Knie. «In diesem Moment hörte ich eine Stimme, die sagte: 'Steh auf!'» Er schrie zu Gott, dass er nicht mehr wisse, was er tun soll. Unkontrolliert weinte er kurz darauf auf dem Bürgersteig. Wieder hörte er die Stimme: «Steh auf!»
Öffentlich vergeben
Ihm sei dann klar geworden, dass er der Gemeinde sagen muss, «dass ich trotz des Verlusts meiner Frau weiterhin auf den Herrn vertrauen und an ihn glaube».
Kurz darauf wurde der Atentäter Dylann Roof gefasst. Thompson wollte eigentlich nicht zur ersten Anhörung, ging dann aber doch. Als die Tochter eines anderen Opfers, Ethel Lance, aufstand und Dylann vergab, wurde auch Anthony und seine Familie eingeladen, zu sprechen. «Ich wollte eigentlich nicht und ich dachte, dass ich nichts zu sagen hätte. Doch Gott zeigte mir, dass ich Dylann vergeben sollte, so wie Gott mir vergeben hatte.»
Dann stand Anthony auf dem Podium. «Ich erinnere mich, dass ich zu Dylann sprach, als ob ausser ihm und mir niemand im Raum war. Ich sagte: 'Mein Sohn, ich vergebe dir, meine Familie vergibt dir, und wir möchten, dass du die Gelegenheit ergreifst, Busse zu tun, und dein Leben demjenigen schenkst, dem du am wichtigsten bist: Christus'.»
Frieden, der alles Verständnis übersteigt
Gott habe ihm danach einen absoluten Frieden gegeben. «Ich habe viele Male über den Frieden gepredigt, der alles Verständnis übersteigt, und ich dachte, ich hätte ihn bereits. Aber er kam an jenem Tag zu mir und ich habe ihn immer noch. Es ist der Frieden, den Gott mir geschenkt hat, damit ich und meine Familie und meine Kirche vorankommen können.»
Er habe in diesem Augenblick auch gespürt, dass er eine neue Aufgabe habe – über die Vergebung zu lehren. «Vorher dachte ich, dass es für mich keinen Sinn mehr gibt.» Aber Gott habe ihm die Wut tatsächlich weggenommen.
Vergebung sei auch eine Entscheidung. «Sie beruht nicht auf unseren Gefühlen oder Emotionen, denn ohne Gott können wir dies nicht tun. Ich war nicht in der Lage, Dylann zu vergeben, ohne dass Gott eingriff. Ich wollte nicht zu dieser Anhörung gehen, aber er sagte mir, ich solle hingehen. Und ich wollte zuerst gar nicht sprechen.»
Niemand könne von sich aus verzeihen. «Und wir müssen den Menschen vergeben, damit Gott uns verzeihen kann.»
«Meine Seele wurde zerrissen»
Gegen Dylann ist die Todesstrafe ausgesprochen worden, obschon dies keine der Opferfamilie wünschte. «Ich glaube, Gott möchte, dass Dylann sein Leben noch ändert. Denn meine Frau würde sich das sehr wünschen.»
Menschen werden durch das Unrecht verletzt, das andere Menschen ihnen antun, sagt Thompson. «Ich wurde verletzt, meine Seele wurde zerrissen und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte einfach alles aufgeben.»
Der menschliche Instinkt sei, Rache zu nehmen. «Aber je mehr wir planen, jemand anderem Schaden zuzufügen, desto mehr Schaden bringen wir in das eigene Leben. Je mehr man am Zorn festhält, desto unglücklicher wird man. Sogar Ärzte kommen zu der Überzeugung, dass Unversöhnlichkeit die körperliche Gesundheit ruiniert.»
Kein Unterton mehr
Seit dieser Tragödie haben sich die Dinge in Charlston geändert. Habe es früher rassistische Untertöne gegeben, so sei die Gesellschaft heute geeint.
«Einmal hielt ich in einer vorwiegend weissen Kirche einen Vortrag darüber, dass wir das Licht der Welt sind und unsere Sünden bekennen und bereuen müssen. Eine weisse Frau in meinem Alter stand auf und bekannte, dass sie eine Rassistin gewesen war, aber sie habe das bereut, als sie hörte, dass wir Dylann vergeben haben.»
Die Menschen würden ihr Leben überprüfen. «Wir versuchen, diese Mauern niederzureissen und damit aufzuhören, uns gegenseitig über die Farbe unserer Haut zu definieren. Wir sehen uns in einem anderen Licht, als Nachbarn. Das ist es, was in Charleston geschieht.»
«Machen Sie diesen Fehler nicht»
Mit seinem Buch wolle er erreichen, «dass die Menschen erkennen, dass, egal welche Tragödie ihnen wiederfahren ist, sie nicht der menschlichen Natur folgen sollen. Machen Sie nicht den Fehler zu glauben, dass Rache Ihnen Frieden bringen wird; das wird sie nicht.»
Er rät zur Vergebung. «Wir alle sind aufgerufen zu vergeben, mehr wegen uns selbst als wegen der Person, die uns verletzt hat. Vergeben Sie dem anderen, damit Sie den Frieden und den Trost Gottes empfangen können – den Frieden, den Sie brauchen, um Ihr Leben weiterzuführen. Vergebung ist der einzige Weg, wie Sie ihn bekommen können.»
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Datum: 07.06.2020
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Christian Today / gekürzte Übersetzung: Jesus.ch